Durch den Monat mit Leo Scherer (Teil 4): Wann eskalierte es in Kaiseraugst?
Wie Leo Scherer die bisherige Wirkung der Anti-AKW-Bewegung einordnet – und was heute atompolitisch dringend nötig wäre.
WOZ: Leo Scherer, die Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst 1975 gilt als historischer Moment in der jüngeren Schweizer Geschichte. Wie haben Sie das Ereignis erlebt?
Leo Scherer: Ich war bei der Platzbesetzung nicht dabei, sondern im Hintergrund tätig, zum Beispiel bei der Vorbereitung von Bürger:inneninitiativen. Dazu brauchte es viel Aufklärungsarbeit – auch Naturschutzkreise waren ja noch lange für AKWs. Und damals galt noch das alte Atomrecht.
Was bedeutete das?
Vom Bund gab es nur marginale Auflagen für eine Baubewilligung. Weil in Kaiseraugst aber durch die Grundstücke, die der Kanton als Eigentümer des geplanten AKW besass, Feldwege der Gemeinde verliefen, brauchte es die Zustimmung der Gemeindeversammlung. Als diese die Vorlage ablehnte, versuchte es der Kanton per Enteignung. Da wussten wir: Jetzt eskaliert es. Am 1. April begann die Besetzung. Da sind tolle Sachen passiert.
Zum Beispiel?
Eine Delegation der Vollversammlung verhandelte mit dem Bundesrat darüber, unter welchen Konditionen man bereit wäre, den Platz zu räumen. Der Zentralstaat musste mit einem verhandeln! Wann gab es das in der Schweiz? Nicht mal beim Generalstreik 1918. Der politische Reifegrad, den diese Bewegung erreichte, war einzigartig. So war man auch genug gescheit, um zu wissen: Jetzt ist nicht die Zeit für den bewaffneten Kampf. Nur wenn ein Anliegen breit genug verankert ist, hast du eine Chance. In Kaiseraugst reichte die Solidarität bis weit übers linke Lager hinaus. Am Schluss, nach fast drei Monaten, waren gegen 30 000 Leute auf dem Platz.
Mit welchem Resultat?
Das Bauvorhaben wurde verschoben – und 1987 definitiv begraben. Als direkte Folge kam 1976 zudem die Initiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit von Bau und Betrieb von Atomanlagen» zustande. Fünf von zehn damals geplanten AKWs sind schliesslich nie gebaut worden.
Gösgen aber schon …
Ja, aber ob du einen Bauplatz oder ein fertiges AKW wie damals in Gösgen besetzt, ist halt schon ein Unterschied. Doch Zwentendorf in Österreich machte Mut: Dort musste ein fertiges AKW rückgebaut werden. Also dachten wir: Blockieren wir die Zufahrtsstrassen. Beim zweiten Besetzungsversuch im Juni 1977 war ich zuvorderst dabei. Das war traumatisch.
Was war geschehen?
Wir waren etwa 1500 Leute, die vom Bahnhof Richtung AKW marschierten. Schon wenige Meter nach der Unterführung versperrte ein Grossaufgebot der Polizei den Weg. Als wir uns nicht davon abhalten liessen, warfen sie Tränengaspetarden knapp neben die vordere Reihe. Dann schossen sie das Gas in die Menschenmenge in der Unterführung, sodass wir über die Gleise fliehen mussten. Kurz danach donnerte ein Schnellzug vorbei. Das war eventualvorsätzlich. Doch der Widerstand hat sich gelohnt: Seit 1979 kann man gegen jede Rahmenbewilligung für ein neues AKW das Referendum ergreifen. Und 1984 sagten immerhin 45 Prozent Ja zu einer Zukunft ohne weitere AKWs. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 musste man niemandem mehr erklären, dass AKWs gefährlich sind. Vier Jahre später sagte die Stimmbevölkerung Ja zu einem zehnjährigen Moratorium – wie auch zum Energieartikel mit dem Bekenntnis zur Förderung erneuerbarer Energien.
Wie waren Sie da involviert?
Ich machte gerade ein Nachdiplomstudium in Umweltökologie und arbeitete danach als selbstständiger Umweltjurist. In dieser Zeit betreute ich das Aktuariat für die Initiativen «Für eine Energiewende und die schrittweise Stilllegung der AKWs» und «Für die Verlängerung des AKW-Baustopps und die Begrenzung des Atomrisikos» (Moratorium Plus). Leider scheiterten sie 2003 klar an der Urne – worauf die Energiewirtschaft wieder Morgenluft witterte und in Mühleberg, Gösgen und Beznau je ein weiteres AKW bauen wollte. Da war ich bereits fest bei Greenpeace Schweiz angestellt.
Was reizte Sie an diesem Job?
In so einer Organisation hast du die nötigen Ressourcen. Als Mitverantwortlicher der Anti-Atom-Kampagnen konnte ich direkte Aktionen aushecken – und im Rahmen der Vernehmlassung auch am Inhalt des 2003 beschlossenen Kernenergiegesetzes, quasi dem Gegenentwurf zur Moratorium-Plus-Initiative, mitwirken. Alles in allem haben wir bis heute eine doch recht umfassende gesetzliche Regulierung, auch im Strahlenschutz. Faktisch gilt ein AKW-Neubau-Verbot. Dass wir mit den erneuerbaren Energien noch nicht so weit sind, ist der jahrzehntelangen Blockade der Bürgerlichen, insbesondere der SVP, zu verdanken.
Und nun, in der Energiekrise, träumt auch der FDP-Präsident von neuen AKWs. Bis zum Ausstieg wird es wohl noch dauern …
Zuallererst müssten endlich die Erstgeneration-AKWs in Beznau abgeschaltet werden. Beznau I ist das älteste noch in Betrieb befindliche AKW. Weltweit! Heisst also: Da läuft ein gefährlicher Versuchsbetrieb!
Leo Scherer (70) war 1987 Mitgründer des Vereins Beznau Stilllegen. Seit 1990 sitzt er im Wettinger Einwohner:innenrat. Mehr über den politischen Alltag in einer Mittellandagglomerationsgemeinde in der letzten Folge.