50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil: Revolutionäres aus Rom
«Wir machen ein Konzil»: So sprach Papst Johannes XXIII. im Jahr 1962. Das darauffolgende dreijährige Konzil war ein historisches Ereignis, dessen Bedeutung weit über die katholische Kirche hinausgeht.
Im Oktober 1962 begann in Rom unter den Augen der internationalen Presse das Zweite Vatikanische Konzil. Die katholische Kirchenleitung, die sich bis dahin gegen alle Modernisierung gestemmt hatte, mit Despoten, erzkonservativen Adelsgeschlechtern, Altnazis und Neofaschisten paktierte und an der Verdammung aller anderen Religionen, insbesondere der jüdischen, festhielt, schickte sich an, in einer Vollversammlung aller Bischöfe über Reformen zu diskutieren (vgl. «Drei Jahre Diskussion» im Anschluss an diesen Text).
Niemand konnte ahnen, welche Entwicklung die Versammlung in den drei Jahren und noch mehr in der Folge nehmen würde. Aus der zeitlichen Distanz erscheint das Zweite Vatikanum als herausragendes Beispiel für das, was der Philosoph Alain Badiou ein «singuläres Ereignis» nennt.
Das Neue im Alten
Ein solches zeichnet sich laut Badiou dadurch aus, dass es eine bestehende Ordnung absetzt. Badiou spricht von der «überschreitenden Dimension» des Ereignisses und davon, dass das, was innerhalb eines bestimmten Systems geschieht, nicht in den Kategorien desselben gedacht werden kann. Ein singuläres Ereignis hat keine Gegenwart, sondern verdichtet sich erst in der Rückschau zu einem solchen. Entscheidend ist das Vorhandensein einer nachhaltigen Wirkung, bei Badiou «Treue zum Ereignis» genannt. Sie ist feststellbar als biografischer Bezugspunkt bei Individuen und Gruppen oder als Gründungsmythos in Institutionen. Beispiele für singuläre Ereignisse wären die Französische Revolution, die Oktoberrevolution 1917 oder der Pariser Mai 68. Entscheidend ist nicht, ob die Initiative von unten kommt oder wie beim Konzil von oben.
Was waren die Elemente, die das Konzil zu einem singulären Ereignis machen? Zuerst wäre die bewusst saloppe Ankündigung durch den 81-jährigen Papst Johannes XXIII. zu nennen, seine legendär gewordenen Worte: «Faciamo un concilio». Die Inhalte wurden nur vage umschrieben und sollten sich an den Problemen der Gegenwart orientieren. Auch weigerte sich der Papst, einen Schlusstermin zu setzen. Vielen Kardinälen waren die Risiken dieses Verfahrens zu gross; mit vorgefertigten Dokumenten und minuziöser Tagungsordnung versuchten sie, die drohende Dynamik zu unterbinden. Aber am ersten Sitzungstag ergriff der 87-jährige Kardinal Liénard von Lille unerlaubterweise das Mikrofon und warb darum, die Sitzungsordnung zu ändern, worauf starker Applaus folgte: Der Plan der Bürokraten war zunichte, die berühmte Eigendynamik nahm ihren Lauf.
Die historische Singularität des Konzils erschliesst sich kaum aus den Schlussdokumenten, die voller Widersprüche und Anachronismen sind. Sie enthalten «sehr viel Altes im Neuen», wie Paulo Ricca, reformierter Theologe und Beobachter des Konzils, jüngst ausgeführt hat. Dass dann aber Ricca im späteren Verlauf in denselben Texten plötzlich «sehr viel Neues im Alten entdeckte», verweist präzis auf den sogenannten Geist des Konzils, der SkeptikerInnen genauso kippen liess wie manche Bischöfe und viele KatholikInnen. Obwohl diese Texte auch viel konservativer hätten gelesen werden können, wurden sie zumeist unter Stichworten wie Öffnung und Revolution rezipiert.
Im Büchlein «Im Bann des Konzils: Reform oder Revolution?» (1966) beklagten sich rechtskatholische Kreise über die zu revolutionäre Umsetzung des Konzils. Sie empörten sich besonders über die flächendeckende Einführung der Landessprachen im Gottesdienst, obwohl dies in den Konziltexten nur als Ausnahme vorgesehen gewesen sei. Gibt es ein besseres Beispiel, um die Ereignishaftigkeit des Konzils zu zeigen, indem hier Absicht und Wirkung weit auseinandergehen? Die sofortige, quasi autonome Verbannung des Lateins aus dem Gottesdienst war ein spontaner Akt der Selbstaufklärung der Priester und des Kirchenvolks: Wenn der Kult nicht mehr ein magisch-geheimnisvolles Geschehen ist, sondern verstanden werden will, wird auch der Priester plötzlich nach profanen Gesichtspunkten beurteilt.
Befreiung aus dem Ghetto
Dabei wird auch deutlich, dass die Eingliederung des Katholischen in die aktuelle Kultur den Niedergang seiner Ausnahmestellung und Macht vorantrieb. Auch wenn es, von einem universellen und ästhetischen Standpunkt betrachtet, durchaus Argumente gäbe, das Latein im Gottesdienst wieder zu pflegen, verwundert es daher nicht, dass die Forderung danach immer reaktionären Kräften zuarbeitet, denen die sozialen und politischen Positionsverschiebungen der Kirche ein Gräuel sind. Dabei sind es letztlich diese Errungenschaften, die das Konzil weit in die Gesellschaft hinein zu einem singulären Ereignis machen.
Noch während des Konzils verpflichteten sich im «Katakombenpakt» vierzig Bischöfe aus Lateinamerika, auf alle Würdentitel und Prunk sowie persönliches Eigentum zu verzichten und ein Leben in Armut zu führen, so «wie die Menschen um uns üblicherweise leben». Diese Selbstverpflichtung war der Anfang des Bruchs mit der seit der Eroberung und Zwangschristianisierung Lateinamerikas bestehenden Bindung der katholischen Kirche an Macht und Kapital. Der fundamentale Perspektivenwechsel war Initialzündung für das, was als «Theologie der Befreiung» bekannt wurde. Priester, Bischöfe und TheologInnen bemühten sich um ein Christentum in «Option für die Armen», erkannten Parallelen der jüdisch-christlichen Tradition mit der marxistischen Theorie, organisierten Basisgemeinden, in denen Bibellektüre und politische Bildung verschmolzen, und unterstützten offen linke Befreiungsbewegungen.
Der Geist des Konzils hat auch in der Schweiz eine ganze Generation geformt. Die gut gemeinte, aber nicht sehr verbindliche Aufwertung der Basiskirche traf hierzulande auf fruchtbaren Boden. Für eine noch im geschlossenen katholischen Milieu gross gewordene Jugend hielt das Konzil ähnliche Versprechen bereit wie 1968 für die deutschen Kinder der Kriegsgeneration. Dank des Konzils konnten die Befreiung aus dem Ghetto und die Emanzipation durch Partizipation noch innerhalb der Kirche realisiert werden. Die Politisierung vieler Kirchgemeinden und des Theologiestudiums, der Aufbau von Nord-Süd-Partnerschaften, das Engagement in Friedensbewegung und Flüchtlingsarbeit sowie die Vertreibung des erzreaktionären Bischofs Wolfgang Haas nach Liechtenstein sind nur die wichtigsten Akzente dieser 62er-Konzil-Generation in der Schweiz. Die historische Würdigung ihrer Bedeutung für die schweizerische Zivilgesellschaft steht indessen noch aus.
Drei Jahre Diskussion
Das Zweite Vatikanische Konzil wurde am 11. Oktober 1962 vom damaligen Papst Johannes XXIII. eröffnet. 2250 katholische Bischöfe aus 116 Staaten kamen in Rom zusammen, um eine grundlegende Reform der Kirche anzustossen. Papst Paul VI. schloss das Konzil 1965. Dessen Themen waren unter anderem das Kirchenverständnis, die sozialen Kommunikationsmittel, das Verhältnis des Katholizismus zu anderen christlichen Konfessionen sowie zum Judentum, die Liturgie und das Zölibat.