Überwachung: Steuerdaten und Landi-Quittungen

Nr. 20 –

Nach einer harmlosen Aktion werden in Genf Klimaaktivist:innen und deren Bekannte von der Justiz durchleuchtet.

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Markierungen mit wasserlöslicher Farbe auf einem improvisierten Veloweg in Genf, 2023
Wegen einiger Markierungen mit wasserlöslicher Farbe geraten über hundert Personen ins Visier der Jusitz: ­Improvisierter Veloweg in Genf, 2023. Foto: Extinction Rebellion Genf

Was sich momentan in Genf abspielt, deutet auf einen Justizskandal hin. Angefangen hat alles 2023. In einer Februarnacht nimmt die Genfer Polizei drei Aktivisten von Extinction Rebellion (XR) fest, darunter den Studenten Joël Perret*. Sie sollen mit gelber Farbe Velowegmarkierungen auf eine Strasse gemalt haben. Die Stadt Genf erstattet Anzeige wegen Sachbeschädigung und schätzt den Schaden auf rund 2000 Franken. Zwei der Aktivisten werden zu einer Geldstrafe von je 1500 Franken verurteilt. Der dritte erhält wohl wegen seiner Minderjährigkeit keinen Bescheid. Die Aktivisten legen Einspruch ein, es kommt zu einer Einigung mit der Stadt, die die Anzeige zurückzieht.

In der Zwischenzeit aber hat das kantonale Tiefbauamt wegen zweier weiterer Strassenmarkierungen Anzeige erstattet, die ebenfalls im Februar aufgemalt wurden. Da bei diesen Aktionen niemand gefasst wurde, beginnt die Genfer Staatsanwaltschaft mit Ermittlungen. Und die Geschichte nimmt eine völlig neue Wendung.

Weisse Farbe im Sonderangebot

Da das Tiefbauamt zunächst keine Kostenschätzung abgegeben hat, hält die Staatsanwaltschaft einen Schaden von mehr als 10 000 Franken für möglich. Ab diesem Betrag gilt ein Schaden als erheblich. Mit der Begründung, dass nur weitreichende Untersuchungsmassnahmen die Ermittlungen voranbringen könnten, erlässt die Staatsanwaltschaft im Juni 2023 einen Untersuchungsauftrag an die Polizei. Und dieser ist sehr weitreichend: Die Polizei erstellt eine Liste von 123 Personen, von XR-Mitgliedern sowie von Personen, die mit diesen verbunden sind. Auf der Liste finden sich auch Mitbewohner:innen, Freund:innen und Elternteile der Aktivist:innen, sogar ein 2019 verstorbener Grossvater, der seit 2011 in einem Pflegeheim gelebt hatte.

Ausführliche Ermittlungen führt die Polizei gegen die drei der ersten Velowegaktion überführten Personen sowie gegen einen Mitbewohner von Joël Perret, den ebenfalls in der Bewegung engagierten Benjamin Montreux*. Die Polizei holt beim Finanzamt Steuerdaten ein. Sie interessiert sich auch für Kontobewegungen bei Postfinance, Raiffeisen, UBS und der Migros-Bank. Sie will die Anrufprotokolle von Telefonanschlüssen bei Swisscom, Sunrise und Salt. Sie fordert Quittungen und auch Videoüberwachungsaufnahmen von Jumbo und Landi an – die allerdings bereits gelöscht sind.

Die Staatsanwaltschaft erfährt so unter anderem: Joël Perret hat im Februar 2023 weisse Acrylfarbe gekauft. Der Preis war heruntergesetzt von zehn auf sieben Franken, wie der Jumbo-Kassenbon ausweist. Benjamin Montreux erhielt regelmässig einen Lohn vom Kanton Genf in Höhe von 3000 Franken, wie die Raiffeisen-Bank mit zur Verfügung gestellten Kontoauszügen bestätigt. Die Fluggesellschaft Easy Jet wurde angefragt, ob Montreux diese genutzt habe. Ergebnis: Zwischen Januar 2020 und Juni 2023 ist 49 Mal jemand mit seinem Nachnamen mit Easy Jet geflogen. Montreux, der kürzlich seine Doktorarbeit abgeschlossen hat und seit 2019 bei XR ist, sagt bei einem Gespräch in Bern, er selbst sei in dieser Zeit nie Passagier gewesen. Er sagt auch: «Solche Überwachungsmassnahmen hätte ich von einem Regime wie Russland erwartet, aber nicht von der Schweiz.»

«Eine klare Überreaktion»

Vom Ausmass der Überwachung erfahren die Betroffenen erst im Januar 2025, als die Staatsanwaltschaft Joël Perret vorlädt und er Akteneinsicht erhält. Perret will sich gegenüber der WOZ nicht äussern. Montreux hingegen versichert, er habe mit der Velowegaktion nichts zu tun. Er habe nichts davon gewusst und sei in keiner Form in die Aktion involviert gewesen. Als er die Akten über sich gesehen habe, habe es sich surreal angefühlt. «Meine Privatsphäre, meine Menschenrechte sind beschnitten worden», sagt Montreux. Der Staatsanwalt verstecke sich hinter dem Standpunkt, er habe so breit recherchieren müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen. «Das ist eine klare Überreaktion: Nach einem geringfügigen Regelverstoss haben die Behörden unverhältnismässige Massnahmen gegen mehrere Personen ergriffen, von denen viele nichts mit dem Fall zu tun haben», sagt er. Man könne offensichtlich ohne ersichtlichen Grund überwacht werden und womöglich im Gefängnis landen. Auch Freund:innen seien betroffen, etwa wenn man diesen Geld geliehen habe und diese dann namentlich auf dem eigenen Kontoauszug erschienen seien.

Montreux hat schon mehrfach Auseinandersetzungen mit der Justiz gehabt, unter anderem wegen der dreistündigen Blockierung der Zürcher Quaibrücke im Juni 2020. Sein Einspruch gegen die Anklage wegen Nötigung ist noch beim Bundesgericht hängig. Nach seiner Teilnahme an den «Rise up for Change»-Protesten in Bern 2020 wurde er wegen Behinderung einer Amtshandlung angeklagt; der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Ein weiteres Verfahren wegen einer Aktion in Genf wurde eingestellt. In den vergangenen Jahren habe er 26 000 Franken an Anwaltskosten bezahlt, sagt der Aktivist. Insgesamt seien die zahlreichen Justizverfahren gegen XR mühsam. Viele Anwält:innen würden zwar zu Freundschaftstarifen arbeiten, aber das sei keine befriedigende Lösung.

Eine Gruppe von Anwält:innen veröffentlichte Ende April in der überregionalen Genfer Zeitung «Le Courrier» einen offenen Brief, in dem sie kritisierten, die Staatsanwaltschaft in Genf habe das Recht missbraucht. Ihr Vorgehen erinnere an den Fichenskandal von 1989, als bekannt wurde, dass die Bundespolizei über die Jahre Akten von 900 000 Personen angelegt hatte. «Der Einsatz für das Recht auf Wohnen, auf eine gesunde Umwelt, auf Zugang zu Kultur oder gegen Rassismus und institutionelle Gewalt kann dazu führen, dass der eigene Name, das Foto, die Adresse oder die Telefonnummer in einer Polizeiakte gefunden werden», warnen die Anwält:innen. Sie fordern eine Überarbeitung der entsprechenden Gesetze, «damit die Rechtsstaatlichkeit angesichts des Polizeistaats wieder ihren Platz einnehmen darf».

Der Rechtsanwalt Olivier Peter, der Joël Perret vertritt, kritisiert das Vorgehen der Genfer Justiz als ein «verheerendes Signal» an alle Menschenrechtsaktivist:innen. «Die Behörden sind verpflichtet, die Verletzung der Rechte von Aktivist:innen formell anzuerkennen, sie zu entschädigen und vor allem Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass solche Verstösse nicht mehr vorkommen.» Leo Peterschmitt von den Grünen hat dem Stadtrat eine Anfrage geschickt. Er will wissen, welche Informationen Polizei und Justiz auf welcher gesetzlichen Grundlage sammeln, ob die Massnahmen der Polizei überwacht würden und ob diese mit dem Recht auf Privatsphäre und dem Recht auf Datenschutz vereinbar seien. Der Stadtrat will sich am 23. Mai dazu äussern.

Uno klagt die Schweiz an

XR gerät wegen ihres Aktivismus immer wieder in die Kritik. Im «Courrier» erschien im vergangenen September ein Beitrag über die Rebell:innen mit der Überschrift «Der Aufstand ist zum Stillstand gekommen». Zwischen juristischen Auseinandersetzungen und internen Streitigkeiten sei es der Organisation in Genf nicht gelungen, die Bevölkerung von ihren Zielen zu überzeugen. Doch unabhängig vom Stellenwert und von der Wirkung der Bewegung schürt das Vorgehen der Justiz den Verdacht, dass hier durch weitgreifende Massnahmen versucht wird, die Klimaaktivist:innen zum Schweigen zu bringen.

Erst im April forderten mehrere Uno-Expert:innen von der Schweiz verstärkte Anstrengungen beim Klimaschutz. Im Januar 2024 zeigten sich mehrere Uno-Sonderberichterstatter:innen besorgt über den repressiven Umgang der Schweiz mit Klimaaktivist:innen. Der Sozialwissenschaftler Jevgeniy Bluwstein, der an der Universität Bern im Themenbereich Klima und Recht in der Schweiz forscht, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler:innen hat er fast 250 Gerichtsverhandlungen in der Schweiz verfolgt. Das Ergebnis: Ein signifikanter Teil an friedlichen Aktionen werde mit einem Eintrag in das Strafregister verfolgt, anstatt die Beschuldigten mit Bussen gegen Übertretungen und ohne Eintrag ins Strafregister zu sanktionieren.

Diese Härte könne einen «Chilling Effect» auslösen: «Man überlegt sich zweimal, ob man noch einmal eine Festnahme und einen Strafbefehl riskieren will. Viele wenden sich von der Bewegung ab, andere setzen viel Energie, Geld und Zeit ein, um sich durch die Gerichtsinstanzen zu kämpfen. In der Zwischenzeit macht man vielleicht weniger Aktionen, oder die Aktionsformen verändern sich.» Den Fall aus Genf bezeichnet Bluwstein als «einen politischen Skandal», der aber auch eine Chance für die Klimabewegung sei, weil er auf die Rechtsverletzungen aufmerksam mache.

Die Aktivisten haben mit ihren Anwält:innen eine Versiegelung ihrer Akten beantragt und warten auf den gerichtlichen Bescheid. Zudem wurde eine Beschwerde bei der zuständigen Strafkammer über die Überwachungsmassnahmen eingereicht. Die Beschwerden werden derzeit geprüft. Sollte die Versiegelung gewährt werden, darf die Staatsanwaltschaft einen Grossteil der Beweismittel nicht verwenden und muss die Anklage wahrscheinlich fallen lassen.

* Name geändert.

Kein Recht auf Klimaprotest: Die Justiz als Waffe

Es ist ein weltweites Phänomen, dass die Justiz als Waffe gegen Klimaschützer:innen eingesetzt wird. Von Kanada und den USA bis Guatemala und Chile, von Indien und Tansania bis Grossbritannien, von Australien bis zu EU-Staaten wird rechtlich gegen Aktivist:innen vorgegangen, die versuchen, auf die Klimakrise hinzuweisen.

In den USA wurden seit den Standing-Rock-Protesten 2016/17 Gesetze zur Einschränkung von Protesten verabschiedet. Viele richten sich speziell gegen Umweltproteste und verschärfen die Strafen für Versammlungen an Standorten von aus staatlicher Sicht kritischer Infrastruktur, zum Beispiel eben Pipelines. Einige der Gesetze basieren auf Empfehlungen des American Legislative Exchange Council, dessen Ziel vor allem die Erarbeitung und die Verbreitung von Gesetzesvorlagen mit rechtsgerichteten und unternehmensfreundlichen Inhalten für US-Bundesstaaten sind.

In Lateinamerika berichten Expert:innen seit Jahren von einem alarmierenden Anstieg des Missbrauchs der Strafjustiz gegen Klimaschützer:innen. In Australien stellte Human Rights Watch 2022 fest, dass die Behörden Klimaprotestierende unverhältnismässig hart bestrafen: Mehrere Bundesstaaten haben Gesetze verabschiedet, gemäss denen Organisator:innen von Umweltprotesten mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen belegt werden können. Diese Gesetze gehen mit einer Ausweitung des polizeilichen Ermessensspielraums einher, beispielsweise bei der Verhängung von Geldstrafen und Kautionsauflagen.

In Grossbritannien reagierte die konservative Regierung auf die Welle der Klimaproteste im Jahr 2019 mit einer Fülle von neuen Polizeivollmachten. Die Regierung übernahm dabei einige Vorschläge aus einem Bericht der rechtsgerichteten Denkfabrik Policy Exchange mit dem Titel «Extremism Rebellion». Italien nutzte Anti-Mafia-Gesetze auch gegen die «Ultima Generazione» (Letzte Generation) und mobilisierte die Antiterroreinheit Digos, um gegen die Gruppe zu ermitteln. Auch in Deutschland, Schweden oder Frankreich werden Klimaaktivist:innen Opfer von Rechtsmissbrauch.