Kontroversen: Kann man ja mal drüber reden, nicht?

Nr. 21 –

Wer etwas als «kontrovers» bezeichnet, kann damit alles Mögliche als diskussionswürdig adeln – auch rassistische und sexistische Ausfälligkeiten und gezielte Propaganda.

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 Michael «Mad Mike» Hughes neben der Flat-Earth-Research-Rakete
«Das kontroverseste Thema der Welt» nannte Michael «Mad Mike» Hughes die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei, und baute eine Rakete, um es zu beweisen.    Foto: Gene Blevins, Imago

Auf Wikipedia findet sich der Eintrag «Elon Musk Salute controversy». Unter diesem Titel wird das Spektrum der Meinungen zusammengetragen, ob Elon Musk dem Publikum an einer Feier zu Donald Trumps Inauguration nun Herzen zugeworfen oder doch den faschistischen Saluto romano gezeigt hat. Man kann das Wort «Kontroverse» verwenden, um eine heftige gesellschaftliche Diskussion beobachtend von aussen zu beschreiben, ohne selbst darauf einzusteigen oder zu werten. Doch erhält der Begriff zunehmend eine Wertigkeit.

Die lateinische «controversia» bezeichnete ursprünglich einen Streit. In den antiken Rhetorikschulen nannte man so aber auch juristische Szenarien, die durchgespielt wurden, um die Argumentation zu schärfen. Auch heute gilt zum Beispiel in Deutschland für die politische Bildung das «Kontroversitätsgebot»: Was in Wissenschaft und Politik als «kontrovers» gilt, soll auch in der Schule diskutiert werden – objektiv. Das Gebot ist ein Kind der 1960er Jahre mit dem Ziel, auch in den Schulen mehr Demokratie zu wagen.

Im Schein der Debatten

Wer behauptet, etwas sei «kontrovers», verbindet damit oft die Forderung, es sei grundlegend zur Diskussion zu stellen. Das klingt tugendhaft demokratisch und aufklärerisch – wie wenn das Schweizer Fernsehen eine Reportage über die Neonazigruppe Junge Tat, die darin ausgiebig zu Wort kommt, damit verteidigt, man wolle auch «kontroverse Themen» angehen und «über den rechten Rand der Gesellschaft» berichten.

Dabei zeugt gerade die Forderung nach «kontroversen» Debatten in vielen Fällen von wissenschaftsfeindlichem Verschwörungsglauben oder gar rechtsextremer Gesinnung. Das zeigt sich etwa im medialen Echo rund um das Sachbuch «The Bell Curve» (1994) von Charles Murray und Richard Herrnstein, die einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Rasse postulieren. In den letzten dreissig Jahren wurden die Kontroversen um ihre Thesen immer wieder als Beleg bemüht für das angeblich so rigide «politisch korrekte» Regime der Meinungsunterdrückung. Noch im Jahr 2020 führte die NZZ den Autor Charles Murray als «streitbar» ein und zitierte ihn mit den Worten: «Ich bin eine kontroverse Person.»

Wenn jemand als «kontroverse» Figur bezeichnet wird, ist damit oft eine gewisse Anerkennung verbunden: Man anerkennt damit die Leistung, Themen anzusprechen ohne Furcht, dafür angegriffen zu werden. In solchen Zusammenhängen kann «kontrovers» aber auch einfach heissen, dass einer im Rebellengestus uralte machoide Banalitäten oder rassistische Altbestände von sich gibt. Vom Influencer Andrew Tate etwa gibt es auf Youtube mehrere Videos, die seine «most controversial statements» versammeln, in denen er Frauen als Eigentum von Männern bezeichnet und psychische Krankheiten als westliche Erfindungen abtut.

Das Wort «kontrovers» sitzt immer öfter genau auf der Grenze zwischen den Fragen, die wir tatsächlich für diskussionswürdig halten, und solchen, die tatsächlich längst geklärt sind – wie die Frage, ob die Erde womöglich doch eine Scheibe ist. So baute der Stuntman Michael «Mad Mike» Hughes eigens eine Rakete, um zu beweisen, dass die Erde flach sei. Er habe sich dessen angenommen, so erklärte er 2018, weil es «das kontroverseste Thema der Welt» sei. Das ist natürlich Schwachsinn: Die Form der Erde ist seit bald 2000 Jahren weitgehend unumstritten. Auch wenn die Mitgliederzahl der Flat Earth Society seit ihrer Gründung 1956 zugenommen hat: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist verschwindend klein.

Mit Zweifeln handeln

Die Strategie jedoch, solche simplen, aber lauten Mikromeinungen übermässig zu betonen, hat sich immer wieder als erfolgreich erwiesen. Der US-Wissenschaftshistoriker Robert N. Proctor hat dafür das Forschungsfeld der Agnotologie geprägt: die Beobachtung, wie Unwissen aktiv und gezielt hergestellt wird. In seinen eigenen Forschungen widmete sich Proctor vor allem der Tabakindustrie, die bis in die sechziger Jahre behauptete, Rauchen sei gesund. Als die wissenschaftliche Erkenntnis sich verdichtete, dass das Gegenteil der Fall ist, wiesen die Tabakkonzerne ihre Spin Doctors an, aktiv «Kontroversen» anzuzetteln, um Zweifel an der «Meinung» zu säen, Rauchen sei krebserregend.

Ähnliche Strategien verfolgen auch die «Händler des Zweifels», die Naomi Oreskes und Erik M. Conway im Buch «Die Machiavellis der Wissenschaft» (2014) beschreiben. Die Wissenschaftshistoriker:innen weisen darin nach, wie in ökologischen Fragen wiederholt Scheinkontroversen fabriziert wurden – beim Pestizid DDT, beim Ozonloch und natürlich auch beim Klimawandel. Seit den neunziger Jahren arbeiten interessengelenkte Thinktanks gezielt daran, wissenschaftliche Kontroversen zu Klimafragen zu inszenieren, wo es gar keine gab – bis ein paar Forscher:innen dafür bezahlt wurden.

Wenn sich also mächtige Klimaskeptiker:innen wie Bundesrat Albert Rösti auf die Scheinweisheit berufen, wonach der menschliche Anteil am Klimawandel wissenschaftlich umstritten sei, ist das nicht zuletzt ein Erfolg von Interessenverbänden um Konzerne wie den Erdölmulti Exxon. Ihre Strategie war äusserst erfolgreich, wie der Umweltjournalist Jon Christensen 2008 im Band «Agnotology» schreibt: Denn die Erfinder:innen solcher «Kontroversen» konnten für ihre PR-Manöver auf eine Presse zählen, die blind dem journalistischen Ideal der Ausgewogenheit folgte – und dabei oft genug ihre Einordnungspflicht vergass.