Tanz: Bis zum Dehnungs­schmerz

Nr. 21 –

Sie weiss, dass ihre kreativen Impulse nicht allen gefallen: Adolphe Binder hat am Basler Ballett neue Sichtweisen provoziert. Nun geht sie. Ein Rückblick.

Diesen Artikel hören (9:40)
-15
+15
-15
/
+15
Portraitfoto von Adolphe Binder
Mal freigeistige Dramaturgin, mal knallharte Kulturmanagerin: Adolphe Binder beherrscht beide Rollen.   Foto: Christian Knörr

Sie versprüht Glamour und verspricht Spektakel: Die gigantische LED-Skulptur «We Wanted to Be the Sky» leuchtet den im Foyer Wartenden ins Gesicht. Das Satzfragment ist Teil der Tanzperformance «Go With Your Heart», eines zweistündigen ästhetischen Wimmelbilds. Es ist das fulminante Finale eines Experiments am Theater Basel. Es trägt die Signatur von Adolphe Binder.

Für ihr letztes grosses Tanzstück hat die abtretende Ballettdirektorin den Performer Tim Etchells und die Künstlerin Vlatka Horvat nach Basel geholt. Unter ihnen verwandelt sich die Bühne in ein lebendiges Triebwerk. Ein unendlicher Ringtausch grotesker und erregter Körper. Es gibt keine feste Struktur, keine Geschichte. Die Tanzenden müssen loslassen, genau wie das Publikum. Gelingt es, ist es der pure Rausch.

Zwei Tage nach der Premiere treffe ich Adolphe Binder im Theater. «Es ist ein Tag zum Durchatmen», schreibt die Ballettchefin zuvor in einem Mail. Zugleich ist es der erste Probentag für «Kintsugi», ihre eigene kleine Abschlussperformance in Basel. An diesem vorgeblich ruhigen Tag also folge ich ihr in die Wirrnis der Theaterkorridore.

Binder hat das dunkle Haar zum lockeren Knoten hochgesteckt, trägt Jeans und eine lindgrüne Satinbluse, die oft das flatternde Schlusslicht bildet, als ich bemüht bin, es mit ihrem Laufschritt aufzunehmen. In einem fensterlosen Proberaum übt eine Tänzerin mit Trainingsjacke und Kopfhörern für «Kintsugi». Der japanische Ausdruck steht für eine alte Technik, zersprungene Keramik zu reparieren. Risse werden nicht versteckt, sondern betont, als Teil der Geschichte. Binders Geschichte ist eine des Rüttelns und Einreissens. Es darf auch ein bisschen wehtun. Dehnungsschmerz zulassen, wie sie sagt.

Eingeladen, um zu verändern

Binders Aufstieg in der Tanzwelt beginnt steil, mit 26 Jahren an der Deutschen Oper Berlin. Als Dramaturgin verantwortet sie die zeitgenössischen Akzente im Traditionskoloss. Es folgen Leitungspositionen an der Komischen Oper Berlin und am Opernhaus in Göteborg. Ein tiefer Riss entsteht während ihrer Intendanz am Tanztheater Wuppertal. 2018 kündigt die Geschäftsleitung fristlos ihren Vertrag wegen angeblichen Fehlverhaltens. Binder geht gerichtlich dagegen vor und bekommt auch in letzter Instanz recht. Sie kehrt nicht nach Wuppertal zurück. Ihre Bewunderung für Pina Bausch, die rebellische Choreografin und weltberühmte Namensgeberin der Wuppertaler Kompanie, hält sie davon ab: Sie möchte nicht als Hauptfigur in einem medienwirksamen Kulturkrimi das künstlerische Erbe Bauschs überspielen.

Mit Leitungsangeboten an europäischen Häusern repariert sie die Blessuren. Ihr hypermoderner Ansatz soll in auserzählten Programmen neue Impulse setzen. «Ich werde eingeladen, wenn Leute Veränderungen wollen», sagt Binder, als wir uns in der Theaterkantine gegenübersitzen und doch noch etwas Ruhe einkehrt. Nach Basel kommt sie im Sommer 2023. Intendant Benedikt von Peter holt sie ans grösste Dreispartenhaus der Schweiz, als der in Basel hochverehrte Ballettchef Richard Wherlock nach 22 Jahren zurücktritt. Im Wissen um den Bruch, den sie einleitet, offeriert Binder dem Publikum mit dem zweiteiligen Ballettabend «Marie und Pierre» einen in ihren Augen sanften Brückenschlag.

Die US-Choreografin Bobbi Jene Smith bringt in flüchtigen Bildern teils nackt Tanzende auf die Bühne, die sich mit Ballroompassagen und anspruchsvollen Duetten an menschlichen Beziehungen und Machtdynamiken abarbeiten. Basler Pressestimmen klingen danach vorsichtig positiv. Das Novum hingegen, dass hier die Choreografin Smith, die Komponistin Celeste Oram und die Dirigentin Tianyi Lu zusammenarbeiten, wird eifrig benannt: «So viel Frauenpower hat man am Theater Basel lange nicht mehr erlebt», schreibt die «Basler Zeitung». Binders pure Absicht. Macht man sie darauf aufmerksam, plaudert sie über feministische Positionen in ihrem Philosophie- und Politikstudium in Hannover und wie sie diese Anfang der neunziger Jahre in Tanz-Offspaces einbringt.

Geboren 1969 in Siebenbürgen, flüchtet Adolphe Binder 1978 mit ihren Eltern aus der rumänischen Diktatur nach Westdeutschland. Machtpolitische Unordnung ist ihr vertraut. Temperamentvoll und willensstark befragt sie sich, ihre Tanzkompanie, das Publikum: Was macht das Leben aus? Wie durchleuchten wir Strukturen, Normen, einen Kanon? Die Geisteswissenschaftlerin sucht die Konfrontation im Nachdenken über Körperlichkeit und Identität.

Der älteste Tänzer ihres internationalen Basler Ensembles ist 43, der älteste in ihrem Programm sogar 71 Jahre alt. Auf der Bühne bewegen sich starke Körper, die sich wohl keinem Hungerdiktat verschrieben haben. «Die grössere Diversität hat einige wenige verstört», sagt Binder über Publikumsreaktionen. Sie weiss, dass sie viel verlangt. Sie will tief eindringen, Begehren, Angst und Hoffnung erforschen. Diese Auseinandersetzung ist schmerzfrei nicht zu haben.

Kreischen im Klassiker

Mit dem Tanzspektakel «Romeo und Julia» im vergangenen Winter beginnt die Stimmung in der Basler Ballettgilde zu kippen. An den Generalversammlungen des Theaters beschwert man sich über das Kunstblut, das Stöhnen und Kreischen im Klassiker. Um Binders Kunstfreiheit einem Massstab zu unterziehen, bemühen Kritiker:innen viele Zahlen und wenig Kontext aus dem Geschäftsbericht 2023/24: Die Auslastung im Basler Ballett sinkt unter ihrer Leitung im Vergleich zum Vorjahr um knapp sieben Prozentpunkte auf 68,3 Prozent.

Konfrontiert man Binder damit, starren ihre dunklen Augen kurz ins Nirgendwo. Sie antwortet schnell: «Das ist einfach nicht richtig.» Zwei Opern des Wagner-Rings führten zu einer komprimierten Spielzeit für Ballettproduktionen, das Kartenangebot wurde auf wenige Monate verdichtet. Massgeschneiderte Stücke konnten dennoch genauso viel Publikum ziehen wie Klassiker unter der vorherigen Intendanz. Binder kann sekundenschnell die Rolle wechseln, von der freigeistigen Dramaturgin zur knallharten Kulturmanagerin.

Was Ballett alles sein kann, verändert sich ständig. Alles Neue entsteht meistens in der freien Szene. Doch das staatlich subventionierte Hochkulturversprechen europäischer Tanzhäuser generiert bis heute ein bürgerliches Publikum. Sehgewohnheiten, Genuss und Rezeption sind dank formalistischer Ästhetik und traditioneller Geschichten fest einstudiert. Nicht zuletzt zahlt diese Zielgruppe teure Abos.

Das aktuelle Programm, so heisst es in den Medien, habe die Freund:innen des Basler Balletts schockiert. Wenn dies die Reaktionen auf Binders künstlerische Ideen sind, dann hat sie einen Auftrag gewiss erledigt: «Ich möchte etwas in die Welt bringen, was vielleicht in diesem Ballettensemble noch nicht gedacht wurde.»

Wenn sie in geschmeidigen Sätzen ein «Denken ohne Geländer» nach Hannah Arendt als wichtige Inspirationsquelle beschreibt, entschlüpft ihr auch ein Satz wie dieser: «Kunst ist keine Dienstleistung.» Der «Beziehungskrise mit dem Publikum», die ihre eine Zeitung attestiert hat, hält sie entgegen: «Das Publikum ist keine konforme Masse, sondern es ist genauso breit wie unsere bunte Gesellschaft. Es sind Publika. Mein Ziel war es, zu öffnen.» Das ist ihr gelungen. Wie Michael Willi, der Verwaltungsratspräsident des Theaters Basel, anmerkte: «Wir haben ein neues junges Publikum gewonnen.» Immerhin eine selbstauferlegte Mission des Hauses.

Betroffene Männermienen

Binders Zeit in Basel endet wie vorgesehen nach zwei Jahren. Ihr folgt nun der international für seinen Stil gefeierte Marco Goecke. In Deutschland würde er aktuell keine Stelle wie die in Basel bekommen: Das Staatsballett Hannover warf den Choreografen 2023 raus, nachdem er einer bekannten Ballettkritikerin den Kot seines Dackels ins Gesicht geschmiert hatte. Eine perfekt inszenierte Pressekonferenz am Theater Basel mit betroffenen Männermienen reichte aus, dass dieser Angriff nun angeblich fast keiner gewesen war. Als neuer Hauschoreograf dürfte Goecke leichtes Spiel haben, die Gemüter zu besänftigen.

Adolphe Binder hat in Basel kaum durchgeatmet. Neben sechs Uraufführungen auf der grossen Bühne, kleineren Produktionen und Gastspielen hat sie mit Tanzfestivals, Filmnächten und Kunstinstallationen versucht, Menschen für das Medium Tanz zu begeistern. Sie kommt und geht im Dazwischen. Lange bleibt sie nie. Sie ist es gewohnt, niemals Gewohnheit zu werden.

«Go With Your Heart» und «Kintsugi / I Will, Love» sind noch bis im Juni 2025 zu sehen. Spieldaten siehe www.theater-basel.ch.