Von oben herab: Klischee in eigener Sache

Nr. 21 –

Stefan Gärtner über Swissness und Stanzen

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Ich schreibe ja nicht nur für Geld und Wahrheit, sondern auch fürs Publikum, und wenn ich meinen ESC-Beitrag vor einem Jahr mit dem Satz begann: «Mir ist der ESC egal, egal auf eine Weise, die wirklich absolut ist», dann darf mein Schweizer Lieblingsblatt nur darum schon wieder um einen ESC-Text bitten, weil das Finale ja in Basel war und es der Schweiz, wie es aussieht, sehr wichtig ist, wie die Welt es nun gefunden hat.

«Wie hat sich die Schweiz als Gastgeberin geschlagen?», fragt also allen Ernstes der «Tages-Anzeiger», und zwar nicht im Vermischten, sondern im Kulturteil: «Der Auftritt der Schweizer Moderatorinnen sorgte im Vergleich zum ersten Halbfinal weniger für Schlagzeilen. Trotz lang erwartetem Auftritt von Michelle Hunziker.» Es ist nur menschlich (und politisch nützlich), dass wir uns in der Meinung der anderen spiegeln, und wenn «wir» ein ESC-Final ausrichten, wollen «wir» wissen, wie «wir» uns geschlagen haben. Das sogenannte WM-Fussball-Sommermärchen steht heute so für die heiteren Merkel-Jahre wie Olympia 1972 in München für das Deutschland Willy Brandts, das freilich zu einem der Linkenhatz wurde, so wie Merkel am von ihr mit ruhigster Hand verwalteten «Almosenstaat» (Heribert Prantl) nie etwas ändern wollte, warum auch, hätte nur Ärger gebracht.

Also soll sich die Schweiz ruhig ums Fernsehlagerfeuer versammeln und hernach fragen, warum der «Tagi» die internationale Pressestimme des «taz»-Denkers und ESC-Beauftragten Jan Feddersen vergessen hat: «Vier Stunden dauerte die Show, mit der das Schweizer Fernsehen sehr cool und ausgesprochen charmant mit allen Klischees in eigener Sache spielte, Alphörner, Schokoladenproduktion und eine gewisse Heidi-eske Spiessigkeit inklusive. Und doch zeigte es, dass es eine (sic) eurovisionäres Event der Spitzenklasse, auch ästhetisch, produzieren kann. Sandra Studer, Hazel Brugger und Michelle Hunziker moderierten erfrischend locker, Sprachstanzen spulten sie nicht ab. Der ESC ist seit seiner ersten Auflage 1956 in Lugano politisch an sich, weil diese Show immer auch eine Art Wasserstandsmeldung in puncto queerer Freiheit ist.»

Wer jemals Udo Jürgens sah, wie er 1966 mit «Merci Chérie» in Luxemburg (und im Smoking) den Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne gewann, wird nicht glauben, dass das irgendwas mit dem Wasserstand queerer Freiheit zu tun hatte, wie ich auch nicht glaube, dass sich das Abspulen von Stanzen irgendeinem Handwerk zuordnen lässt, es sei denn dem journalistischen. Passend ist es abgespulter Journalismus an sich, es als Überraschung zu verkaufen, dass die hochtechnisierte, tadellos designte Schweiz ein Event, auch ästhetisch, produzieren kann, und was Hazel Brugger angeht, hat sie einst auf Twitter ihre Schwangerschaft veröffentlicht. Seither ist mir Brugger ebenfalls egal auf eine Weise, die absolut ist, was wir beide sicher verschmerzen können, so wie das cool und charmant mit Schweizklischees spielende Schweizer Fernsehen sich aber auch nicht wundern muss, wenn die deutsche Presse lobt, dass alles «fast durchgehend im richtigen Takt» gelaufen sei, «wie eine Rolex» («SZ»), die freilich, teuer wie sie ist, immer im Takt laufen sollte. Aber guet, hat es geklappt, andernfalls es ein grosser Käse gewesen wäre, wie ein Emmentaler.

Die israelische Teilnehmerin, eine Überlebende des Hamas-Massakers vom 7. Oktober, hat übrigens Buhrufe kassiert, ein Farbbeutelwurf musste unterbunden werden, denn der Eurovision Song Contest, dieser Wasserstandsanzeiger queerer Freiheit, zeigt halt auch manches andere an. Um so erfreulicher, dass Yuval Raphael, gegen eine eisige Fachjury, so viele Publikumsstimmen bekam, dass es für den zweiten Platz reichte. Und das ist eine so schöne Pointe, dass ich sie nicht mit einer eigenen verderben will.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.