Einbürgerungen: «Dieser Fall war perfekt»

Nr. 22 –

Er ist 29, hat noch nicht einmal das Anwaltspatent, und sein Erfolg vor dem Bundesgericht wird die Einbürgerungspraxis in der Schweiz verändern. Eine Begegnung mit Elias Studer.

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Elias Studer im «La Piazza» in Goldau
«Für manche ist es wohl sogar schwieriger, sich im Kanton Schwyz offen links zu positio­nieren, als sich als queer zu ­outen»: Elias Studer im «La Piazza» in Goldau.

Seine Pizza wird kalt, Elias Studer redet sich in Fahrt. «Wahrscheinlich war das schon mein grösster politischer Erfolg bislang.» Wenige Tage zuvor hat er vor dem Bundesgericht gegen das Staatssekretariat für Migration (SEM) gewonnen, alle grossen Medien berichteten, er erklärt die Folgen, die Vorgeschichte, verliert sich bisweilen in Details – und kommt kaum zum Essen.

Fünf Jahre ist es her, dass er hier in der Pizzeria La Piazza in Goldau vom Wirt nach seiner Meinung zu dessen Einbürgerungsgesuch gefragt wurde. Der Wirt, der nur als Orhan in den Medien erscheinen und sich selbst nicht äussern will, war gerade abgeblitzt: Nach einem Selbstunfall mit dem Auto erhielt er eine bedingte Geldstrafe und einen Eintrag ins Strafregister. Sein Einbürgerungsgesuch wurde abgelehnt – mit Verweis auf eine starre Wartefrist von fünf Jahren. Bis zu deren Ablauf gilt Orhan, der 1994 aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet ist, als nicht «integriert». «Dabei ist allen im Dorf bekannt, wie gut integriert er ist», sagt Elias Studer. «Er ist besser integriert als ich.»

Studer ist in Oberarth im Kanton Schwyz aufgewachsen, zwischen Arth und Goldau – tiefbürgerliche Innerschweiz. Die SP hat hier weder einen Sitz im National- noch im Regierungsrat. Der Jurist, der gerade für die Anwaltsprüfung lernt, ist eine Ausnahmeerscheinung: ruhelos, durch und durch politisch. Mit sechzehn trat er in die Juso ein, später wurde er Präsident der Kantonalsektion, heute sitzt er für die SP im Kantonsrat.

Schon immer habe ihn der Rassismus gestört, den seine Jugendfreund:innen erfahren hätten, sagt er. «Andererseits hat mich sicher auch die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Homosexualität politisiert.» Sich zu outen, sei ihm schwergefallen. Er tat es mit siebzehn – als Einziger an seiner Kantonsschule. Elias Studer hätte sich zurückziehen, vielleicht sogar wegziehen können. Er entschied sich für das Gegenteil, ging in die Offensive, gründete eine Jugendgruppe für LGBTIQ+-Personen.

Killer der Killerkriterien

«Ich überlege mir immer: Auf welchem Weg können wir am meisten erreichen?», sagt Studer. Als Orhan ihn um seine Meinung bat, habe er, damals noch Jusstudent und Stammgast im «La Piazza», zunächst abgewunken: Da kann man nichts machen, dachte er, weil die Fristen bei Einträgen im Strafregister eigentlich starr waren.

Sie galten als eines von mehreren «Killerkriterien» im Einbürgerungsprozess, die das SEM in einem Handbuch formuliert hat. Einige Kantone haben ausserdem eigene, noch weitreichendere Killerkriterien definiert. Personen, auf die eines dieser Kriterien zutrifft, konnten bis anhin gewissermassen automatisch nicht eingebürgert werden. In vielen Kantonen gilt etwa, dass der Bezug von Sozialhilfe die Einbürgerung für fünf Jahre sperrt.

Studer arbeitete zu dieser Zeit gerade an seiner Bachelorarbeit zum Thema Einbürgerungen. Und bemerkte dabei, dass das Bundesgericht schon in zwei Urteilen Killerkriterien beanstandet und stattdessen eine «Gesamtwürdigung» verlangt hatte. «Das eine hat es aber nicht zum Leiturteil erhoben, das andere betraf die ohnehin schon etwas weniger starre Voraussetzung gesellschaftlicher und politischer Grundkenntnisse», sagt er. Was noch fehlte, war ein weiteres, klärendes Urteil. Er suchte noch einmal das Gespräch mit Orhan. Erklärte ihm, dass eine Beschwerde vielleicht doch Erfolg haben könnte, dass ein solcher Prozess vermutlich Jahre dauern würde – aber dass es sich aus politischen Gründen trotzdem lohnen könnte. 24 Jahre alt war er damals.

Strategische Fallführung nennt man das. «Orhans Fall eignete sich perfekt dafür, entweder eine Praxisänderung zu bewirken oder im Fall einer Niederlage politischen Druck aufbauen zu können», erklärt Studer. «Schliesslich ist es offensichtlich, dass hier das Gesuch einer mustergültig integrierten Person abgelehnt wurde.» Für Orhan hat das Urteil keine Konsequenzen – seine Wartefrist läuft dieses Jahr ohnehin ab. Aber in künftigen Verfahren dürfen Einträge im Strafregister, wenn sie geringfügig sind, die Betroffenen nicht mehr automatisch vom Einbürgerungsprozess ausschliessen.

Mittlerweile ist die Einbürgerung eines der zentralen Themen von Studers politischer Arbeit. Er beteiligt sich bei der Demokratie-Initiative, die eine erhebliche Erleichterung des Verfahrens verlangt. Und er hat das Projekt einbürgerungsgeschichten.ch mitgegründet. Es dokumentiert Geschichten von Ausländer:innen, deren Einbürgerung aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt wurde. Die Arbeit ausserhalb des Parlaments erfülle ihn heute mehr als die Arbeit im Kantonsrat, sagt er – auch weil sie ihm mehr Erfolgserlebnisse verschaffe. «Es ist schon unglaublich frustrierend. Wir haben in der laufenden Legislatur noch keine wichtige Abstimmung gewonnen.»

Woher diese Energie?

Sich im Kanton Schwyz offen links zu positionieren – das könne sich wie ein Outing anfühlen, sagt Studer. «Für manche ist das wohl sogar schwieriger, als sich als queer zu outen.» Für ihn ist dieser Gegenwind bis heute auch Antrieb. Derzeit beschäftigt er sich mit dem nächsten strategischen Fall. Er will die Senkung des Maximalsteuersatzes beim Pensionskassenbezug für die Reichsten, die der Kantonsrat beschlossen hat, anfechten.

Auch die Umsetzung des Bundesgerichtsurteils wird er weiterverfolgen. «Es kann gut sein, dass die Kantone mit eigenen Killerkriterien diese nicht von sich aus aufgeben werden», sagt er. «Dann wird es weitere Beschwerden brauchen.» Wichtig werde ausserdem sein, ob in Zukunft auch der Bezug von Sozialhilfe keine automatische Wartefrist für eine Einbürgerung mehr mit sich bringe. «Meiner Meinung nach sind Killerkriterien auch auf Kantonsebene nicht mehr zulässig, auch nicht, wenn es um Sozialhilfe geht», sagt er.

Studer ist optimistisch, ganz grundsätzlich. Das sagt er über sich selbst, das blitzt während des Gesprächs immer wieder auf. Vielleicht auch zu Recht. Orhan wird sich einbürgern lassen können. Mittlerweile würden sich Jugendliche in seinem Kanton regelmässig schon in der Sekundarschule outen. Dass die SP Schwyz bald wieder einen Nationalratssitz erobern könnte, sei durchaus realistisch. Die eingereichte Demokratie-Initiative werde zwar kaum zu gewinnen sein, aber sie sei ein wichtiges Puzzleteil auf dem Weg hin zur Verschiebung der öffentlichen Meinung. Zu all dem hat Elias Studer einen Beitrag geleistet.

Woher diese Energie? «Ich war halt schon damals mediengeil», antwortet er auf die Frage danach, wieso er einst noch als frisch geouteter Jugendlicher in die Offensive ging. Selbstironie beherrscht er gut, aber ist das wirklich bloss ein Witz? «Klar. Insofern, als ich nie etwas tue, einfach um in die Medien zu kommen», sagt er, die erkaltete Pizza mit Nichtbeachtung strafend. Dann fügt er noch ernster hinzu: «Es geht mir besser, wenn ich meine Wut in politische Energie umwandle, als wenn ich nichts tue.»