Auf allen Kanälen: Alle sagen alles
Canceln für Fortgeschrittene: Milo Rau setzt bei den «Wiener Kongressen» auf kontroverse Meinungen. Das sorgt zuverlässig für grosses Medienecho. Aber verändert es auch die Welt?

«V is for loVe!», tönt es vor Beginn jeder Vorstellung aus den Lautsprechern. Keine Frage, die Wiener Festwochen unter Intendant Milo Rau sind auf Kuschelkurs. Als Dienstuniform trägt Rau einen grünen Overall mit einem «Republik der Liebe»-Aufnäher, dem diesjährigen Motto des internationalen Theater- und Performancefestivals.
Rau hat bereits im Vorjahr bewiesen, dass er über schier unerschöpfliche Energiereserven verfügt. Fast schien es, als wären Doppelgänger im Einsatz, so präsent war der Neo-Intendant. Nach jeder Premiere versuchte er, das Publikum von der Bühne aus zu überreden, auf ein Glas Wein ins Festivalzentrum zu kommen. Rau hat für alles und alle ein offenes Ohr und ein offenes Herz. Seiner Liebe entkommt man nicht, möchte man in Anlehnung an einen österreichischen Klassiker sagen: In Ödön von Horváths «Geschichten aus dem Wiener Wald» droht ein Fleischhauer damit seiner Verlobten. Wie wir wissen: Die Geschichte geht nicht gut aus, zumindest für die Frau. Zu viel (männliche) Liebe kann erdrücken.
Milo Rau ist ohnehin ein Paradoxon: Er möchte alle umarmen, aber zugleich den Finger in Wunden legen. Im Vorjahr hiess das passende Debattenformat dazu «Wiener Prozesse», wobei echte Verschwörungstheoretiker:innen, Rechtspopulist:innen und Geflüchtete vor ein fiktives Gericht gestellt wurden. Heuer gibt es an zwei Wochenenden die «Wiener Kongresse», die möglichst kontroverse Meinungen aufeinanderprallen lassen. Themenfelder sind Kulturkriege, Canceln, Kunst und Missbrauch (Stichwort: Rammstein).
Die ganze Wahrheit
Gleich am ersten Wochenende ging es ordentlich zur Sache. Verhandelt wurden «Redefreiheit im Angesicht des Krieges in Gaza», «Anschläge auf die Kunstfreiheit» in Ungarn und in der Slowakei sowie der «Fall Ulrike Guérot» über die Entlassung der Politologin an der Bonner Universität. Einleitend beschwor Milo Rau in versöhnlichen Worten eine «Wiederherstellung von Genauigkeit» in der Sprache. Und mahnte, dass niemand die ganze Wahrheit, jede:r nur einen Teil davon habe.
«Welt»-Herausgeber Ulf Poschardt nervte diese Scheinharmonie. Er griff seinen Vorredner als «schweizerischen Ärztesohn» an: «Benjamin Netanjahu ist mir näher als Milo Rau.» Maximal zynisch bedankte er sich «für den Hass und die Denunziation». Und widmete seine Rede den israelischen Defense Forces. Poschardt findet ohnehin, es lebe sich viel freier, seit der TV-Comedian Jan Böhmermann ihm ein Hitlerbärtchen unter die Nase gezeichnet habe. Medial schien diese Einladung wohlkalkuliert: Poschardts Äusserungen wurden von den Zeitungen breit aufgegriffen. «Der Standard» übertrug die Kongresse live, die Hasskommentare im Liveticker hielten sich aber in Grenzen. Es war wohl doch zu anstrengend, wirklich zuhören zu müssen, um seine Meinung zu verkünden.
Alle so empfindsam
In der Folge ging es um die Frage, was man im Fall von Gaza und Israel alles kritisieren dürfe. Einmal mehr zeigte sich, dass ohnehin alle alles sagen dürfen. Trotzdem liegen die Nerven blank, wenn nur der leiseste Hauch von Kritik und Widerrede erklingt. Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen nannte das in ihrem Einführungsvortrag die «neue Empfindsamkeit des 21. Jahrhunderts». Sie betonte, dass Gecancelte sehr gut verstünden, in unserer rasenden Ökonomie der Aufmerksamkeit ihren vermeintlichen Ausschluss medial für sich zu nutzen. Manches überraschte aber auch: etwa die Dragkünstlerin Valerie Divine aus Budapest, die meinte, die Lage der queeren Menschen in Ungarn sei nicht so schlimm wie im Ausland dargestellt («Ich wurde noch nie gecancelt»).
Was also hat das Format tatsächlich gebracht? Um den realen Erfolg zu prüfen, müsste man das Publikum befragen, wer aufgrund der vorgetragenen Argumente tatsächlich seine Meinung revidiert habe. Die «Wiener Kongresse» sind ein unterhaltsames Mentalitätsbild unserer Gesellschaft, in der alle alles sagen dürfen, aber sich trotzdem jede:r ständig zu kurz gekommen fühlt. Sollten Aliens in der Zukunft dereinst Videos davon finden, würden sie staunen: Damals glaubte offenbar jede:r, zu den komplexesten Dingen eine schnelle Meinung haben zu müssen. Und die Kunst war davon überzeugt, die Welt retten zu müssen. Was für ein Stress: Kein Wunder, dass die Menschheit ausgestorben ist.