Gruff Rhys: Weisser Mann auf falschen Fährten
Fake News im 18. Jahrhundert, auf Durchreise in Zürich: Gruff Rhys und seine Songs über einen glücklosen Entdecker aus der US-Gründerzeit.

Ein junger Mann aus Wales bricht auf, um in Amerika ein vergessenes Volk aufzuspüren. Der Legende nach hat nämlich der walisische Prinz Madoc den Atlantik schon im Jahr 1170 überquert, mehr als 300 Jahre vor Kolumbus. Seither soll es in Nordamerika einen Stamm von weissen Natives geben, die immer noch walisisch sprechen. Die Suche nach diesen «Indianern aus Wales» hat den Sänger und Musiker Gruff Rhys zu seinem Konzeptalbum «American Interior» inspiriert.
Auch wenn das alles zu bizarr klingt, um wahr zu sein: Rhys, bekannt geworden als Frontmann der Super Furry Animals, hat diesen Stoff nicht erfunden. Der junge Entdecker, dessen Geschichte er auf dem Album sehr lose nachzeichnet, ist historisch verbürgt und angeblich auch ein entfernter Urahn des Sängers. Sein Name: John Evans (1770–1799). Aus einfachsten Verhältnissen stammend, verliert Evans früh beide Eltern. 1792 besteigt er in England ein Schiff nach Baltimore, zieht von dort weiter in den spanisch besetzten Süden, wo er prompt verhaftet wird, weil man ihn für einen britischen Spion hält. 1795 schliesst er sich als Kartograf einer Expedition auf dem Missouri an und lebt eine Zeit lang bei den Mandan. Zu seinem Leidwesen muss er feststellen, dass diese Sioux-Natives ihre eigene Sprache haben und nicht etwa Walisisch sprechen. Mit 29 Jahren stirbt er in New Orleans.
Als skurrile Fussnote der US-Gründerzeit stehe John Evans gewissermassen ausserhalb der gängigen Geschichtsschreibung, sagt Gruff Rhys im Gespräch vor seinem Solokonzert in Zürich. Der 54-Jährige ist eine grundsympathische Erscheinung: entspannt, sehr freundlich, sanft kauzig. Er trägt ein dunkelbraunes Cordjackett und ein Baseballcap mit psychedelischem Oktopus, für die Bühne wird er sich später nicht mehr umziehen. Auf Fragen antwortet Rhys stockend, mit sehr langen Pausen dazwischen. Immer wieder schliesst er dabei die Augen, als müsse er die richtigen Worte einzeln im Kopf zusammensuchen.
Vor «American Interior» hat der umtriebige Waliser schon zwei andere Konzeptalben über historische Figuren aufgenommen, beide mit Neon Neon, seinem Elektropopduo mit dem kalifornischen Produzenten Boom Bip. «Stainless Style» (2008) handelte vom US-Autobauer John DeLorean, «Praxis Makes Perfect» (2013) war dann dem italienischen Verleger und kommunistischen Aktivisten Giangiacomo Feltrinelli gewidmet – es ist das wohl poppigste linksradikale Konzeptalbum der Musikgeschichte, samt Gastauftritt von Sabrina Salerno, dem einstigen Popsternchen aus der Italodisco («Boys Boys Boys», wer kennt es noch?).
Roadmovie mit Marionette
Seine Platte über den glücklosen Entdecker hat Gruff Rhys ein erstes Mal vor elf Jahren veröffentlicht, damals begleitet von einem Buch und einem Film, in dem er zusammen mit einer eigens angefertigten John-Evans-Puppe den Stationen von dessen Leben nachreiste. Wenn er jetzt zur erweiterten Neuauflage von «American Interior» nochmals mit diesen Liedern auf Tour ist, dann auch deshalb, weil sich in so kurzer Zeit so vieles verschoben habe, wie er sagt. Das zeige sich schon daran, dass die Idee des Albums inzwischen viel leichter zu erklären sei. Rhys stellt die Figur des John Evans jetzt als Opfer von Fake News vor. Auch wenn der Begriff historisch viel weiter zurückreicht: Vor gerade mal elf Jahren sprach tatsächlich noch niemand von Fake News.
Auch seine politische Haltung habe sich in diesen Jahren gewandelt, sagt Rhys. Und korrigiert sich dann selber: «Meine Haltung nicht, nein. Aber meine politische Sensibilität ist heute eine andere.» Er meint die Bestrebungen zur Dekolonisierung, die im Lauf der zehner Jahre so richtig umfassend im kollektiven Bewusstsein angekommen sind. «Würde ich mich nochmals auf dieses Projekt einlassen, so würde ich das heute anders angehen.»
Die Songs hat Rhys nicht verändert, die «existieren in einem Land für sich», wie er sagt. Dennoch bedeutet die neue Tour auch eine Revision für ihn. Davon, die Abenteuer seines Landsmanns John Evans als Geschichte eines glorreichen Scheiterns zu romantisieren, nimmt er heute Abstand. Wobei dessen Unterfangen durchaus auch eine aufklärerische Komponente hatte. Denn die Erkenntnis, dass die walisischen Natives, nach denen Evans suchte, gar nicht existierten, hätte die Legende von «weissen Indianern» endgültig entkräften können. Doch solche rassistisch grundierten Mythen wirkten noch bis ins 20. Jahrhundert nach, bis in die seriöse Geschichtswissenschaft hinein. Ältere Kulturen in Nord- und Südamerika? Im eurozentrischen Denken der Weissen konnte das nur bedeuten, dass zuvor eben schon Weisse da gewesen waren.
Karte und Herrschaft
Auch wenn er es am Ende seiner Reise besser wusste: Leben und Wirken des John Evans lassen sich nicht nur als kuriose Tragikomödie erzählen. Denn als Kartograf in spanischen Diensten hat Evans auf seiner Expedition auch die erste Landkarte des Missouri erstellt – und damit ein Herrschaftsinstrument geschaffen, das den Kolonialmächten bei ihren weiteren Eroberungsfeldzügen dienen sollte. (Die Karte gelangte später in den Besitz von US-Präsident Thomas Jefferson.) Indem Evans der Legende von den «weissen Indianern» aus Wales gefolgt war, half er also letztlich mit, die Voraussetzungen für die Auslöschung der Natives zu schaffen – und damit auch jener Menschen, die ihn im Winter 1796 als Gast bei sich aufgenommen und ihm so wohl das Leben gerettet hatten.
Entscheidend an einer Legende ist demnach nicht so sehr, ob sie sich als falsch erweist: Auch ein Mythos kann, wenn er handlungsleitend wirkt, konkrete historische Realitäten zeitigen. Mit dieser Denkfigur eröffnet Gruff Rhys sein Konzert im «Bogen F», nachdem er zur Einführung einen längeren Ausschnitt aus einer verblichenen alten TV-Doku über die Wirkungsgeschichte der Madoc-Legende gezeigt hat. Wobei: Konzert? Rhys selber nennt es eine Powerpoint-Präsentation mit Songs (vor allem solche von «American Interior», aber auch ein paar andere). Zu Fotos aus seinem Film hangelt er sich durch die Geschichte des John Evans. Dabei redet er auf der Bühne auch nicht viel zügiger als davor im Gespräch, wie ein Entertainer in Slow Motion – aber in den Songs ist er absolut auf Zack.
Und für den Beat ein Metronom
Vom verstrahlten Psychrock der Super Furry Animals hat sich Gruff Rhys auf seinen Soloalben längst entfernt; «American Interior» samt dem extrem eingängigen Titelstück macht da keine Ausnahme. Sein Konzert in Zürich absolviert Rhys mit minimalen musikalischen Hilfsmitteln. Neben Gesang und Gitarre sind das: eine knisternde Schallplatte mit Tierlauten, eine billige elektronische Einschlafhilfe mit Naturgeräuschen und einmal, für den Beat, ein Metronom, quasi als mechanischer Drumcomputer. Die ganze Ausrüstung hat Platz in einem grossen Rollkoffer, mit dem sich Rhys, den Gitarrenkoffer geschultert, irgendwann nach Mitternacht zu Fuss verabschiedet. Anderntags wird er den Zug nach Paris nehmen, für das zweite seiner drei Solokonzerte auf dem Kontinent.
Im April hat Rhys mit seinem Album über das Fake-News-Opfer aus dem 18. Jahrhundert auch nochmals eine längere Tour mit Band durch die USA absolviert. Die Menschen dort hätten die Hoffnung nicht verloren, erzählt er im Gespräch, der Widerstandsgeist gegen die Absurditäten der Trump-Regierung sei vielerorts ungebrochen. Auf seine Frage, ob die gegenwärtige Lage sie an die Zeit der Kommunistenjagd von Senator Joseph McCarthy erinnere, hätten die Leute nur gelacht: «Oh nein», sagten sie, «es ist viel schlimmer.»
