Durch den Monat mit Veronika Jaeggi (2): Literaturtage als republikanisches Bankett?

Nr. 19 –

Veronika Jaeggi erinnert sich an das Auffahrtswochenende im späten Mai 1979, als ein bayrischer Kommunist bei den ersten Solothurner Literaturtagen im hellblauen Massanzug über die Schweizer Literatur herzog und ein Hund sehr laut zu bellen begann.

Veronika Jaeggi, am anderen Aaareufer vis-a-vis vom Solothurner Landhaus: «Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen der Eingeladenen.»

WOZ: Frau Jaeggi, wenn Sie an den 25. Mai 1979 denken, als die ersten Solothurner Literaturtage eröffnet wurden, was kommt Ihnen da in den Sinn?
Veronika Jaeggi: Wie Otto F. Walter vor Freude strahlte ob der vielen Leute. Und wie ich an der Kasse stand, Billette verkaufte und mit dem Geld, das wir vom Bundesamt für Kultur erhalten hatten, den 5 Autorinnen und 22 Autoren ihre Honorärli auszahlte.

Cash?
Ja, das mache ich heute noch so. Weil das am wenigsten Bürokratie verursacht. Und die Autoren so ihre Gage gleich auch in Solothurn «verprassen» können. 1979 erhielt ein Autor noch 200 Franken für seine Lesung. Unser Budget reichte nicht für Hotelübernachtungen. Die Dichter konnten wählen, ob sie im Massenlager im «Landhaus»-Dachstock übernachten wollten oder privat bei Leuten aus unserem Bekanntenkreis.

Muss ja herrlich chaotisch gewesen sein …
Eigentlich nicht. Es hat von Anfang an alles erstaunlich gut funktioniert. Pannen gab es keine. Und alle waren da: die Kritiker, das Radio und ein erstaunlich grosses und auch junges Publikum – es war, als ob die Leute schon lange darauf gewartet hätten. Alles war noch einigermassen überschaubar. 1979 gingen alle Lesungen in einem einzigen Saal über die Bühne: im «Kreuz»-Saal über der Beiz. Nur der ausländische Gast trat im Landhaus auf. Das war statutarisch festgeschrieben: Die «Literaturtage» sollen primär eine Werkschau für die aktuelle Literatur aus der Schweiz sein, aber um Augen und Ohren auch für Literatur jenseits der Landesgrenzen zu öffnen, soll immer jemand aus dem Ausland eingeladen werden.

Und Franz Xaver Kroetz war der Erste …
Er war nicht nur der einzige Dichter aus dem Ausland, er war auch der einzige in Anzug und Krawatte. Er las brillant aus seinem damals noch unveröffentlichten Theaterstück «Strammer Max». Zudem hatte er die Aufgabe, drei Tage lang hinzuhören und als ausländischer Beobachter über die aktuelle Schweizer Literatur ein Fazit abzugeben. So diskutierten auf dem Schlusspodium Kroetz, Niklaus Meienberg, Adolf Muschg, Giovanni Orelli, Yves Velan, Walter Vogt und Jürg Weibel über «Die Sache und das Wort».

Worüber?
Darüber, was in der Literatur fortschrittlich sei und was reaktionär, was demokratisch und was bürgerlich. Und da sagte der bayrische Kommunist in seinem hellblauen Massanzug, er habe in Solothurn zwar viel über Schweizer Schriftsteller, aber nichts über die Schweiz und ihre Probleme erfahren. Worauf Muschg lakonisch meinte: «Franz, das ist deine Schuld.»

Hat der Mann im hellblauen Anzug am Ende gar recht gehabt?
Im ersten Jahr lasen immerhin politisch wache Autoren wie Otto F. Walter, Hugo Loetscher, Jörg Steiner, Anne Cuneo, Reto Hänny. Wie überhaupt die ersten Literaturtage stark politisiert waren. Das las sich in der Zweckbestimmung so: «Indem Literatur so ins öffentliche Gespräch eingreift und umgekehrt sich diesem aussetzt, kann der gesellschaftliche Zusammenhang bewusst werden, in dem sie steht und für den sie wirkt.»

Als Walter von einem Reporter des Schweizer Fernsehens gefragt wurde, worin er den tieferen Sinn der Literaturtage sehe, sagte er, dass er sich darunter ein «republikanisches Bankett» vorstelle. Der Begriff geht ins Ancien Régime zurück, als Intellektuelle das Versammlungs- und Redeverbot unterwanderten, indem sie sich bei Speis und Trank zu Gesprächen versammelten. So hat es Walter wohl auch gemeint. Mit allem, was dazu gehört: Tischreden – und eben auch Streitgespräche.

Literaturtage als Brennpunkt der Aufklärung?
Und der Demokratisierung! Wie politisch die Schweizer Literatur damals war, zeigte sich in den Werkstätten, die 1979 realisiert wurden. So organisierten die schreibenden Arbeiter Zürich im Gemeinderatssaal einen Kurzgeschichten-Workshop mit dem Publikum. Franz Hohler moderierte im Löwen «Geschichten schreiben mit dem Publikum». Die Arbeiterkultur Basel stellte im Stadttheater das im Kollektiv geschriebene Stück «Betriebsfest» vor. Die schreibenden Frauen Bern machten «Schreibaktionen» auf dem Gemüsemarkt. Und Peter Bichsel moderierte einen «offenen Block», wo jedermann und jedefrau unjuriert eigene Texte vorlesen konnte. Peter Weber zum Beispiel hat in einem solchen Forum in den frühen neunziger Jahren erstmals in Solothurn gelesen.

(Ein Hund kommt ins «Kreuz».)

1979 gab es auch eine tierische Episode. Ein junger Dichter mit Seidenhalstuch, Sohn eines berühmten Schriftstellers, las aus seinem Erstling, und beim Satz «Der Widerstand ist ausgebrochen», begann im Publikum tatsächlich ein realer Hund zu bellen. Wenn ich mich richtig erinnere, war es der Hund von Mariella Mehr – oder hatte Walther Kauer einen Hund dabei?

Ein schönes Beispiel für die unmittelbare Wirkkraft von Literatur.
Ja. Und derselbe Hund bellte auch in der Schlussdiskussion, als sich die Autoren zankten.

Veronika Jaeggi (64) ist seit 1979 Geschäftsleiterin der Solothurner Literaturtage. 
Die 34. Ausgabe am kommenden Auffahrtswochenende vom 18. bis 20. Mai 2012 ist ihre 
Dernière. Auf Ende Juni übergibt sie ihr Amt 
Bettina Spoerri.