Licht im Tunnel: Badehosendemokratie
Michelle Steinbecks sommerliche Postkartenparabel

Samstagabend an der Promenade in Ascona. Es ist schon spät: Die Deutschschweizer Herren, die dem Besuch ihr Ticino am Lago mio präsentieren – «Mortadella isch en Art en Fleischchäs» –, haben sich wohl unter ihre privaten Pergolen zum Brissago-Schmauchen zurückgezogen. Auch wir sind auf dem Heimweg, als über dem See ein Feuerwerk losgeht.
Wie wir also stehen bleiben, entspinnt sich vor uns eine Szene wie aus einem italienischen Indiefilm: Drei Freund:innen sitzen am Ufer und diskutieren händeringend über Politik, während über ihnen am Nachthimmel Raketen explodieren. «Findest du nicht, dass ein Unternehmen für die Sicherheit seiner Arbeiter:innen verantwortlich sein sollte?» – «Nein, das finde ich nicht.» – «Vielleicht weisst du nicht, dass die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle in Italien immer weiter steigt? Dass dieses Jahr schon 291 Menschen bei der Arbeit gestorben sind? Dass das Todesrisiko für ausländische Arbeiter:innen fast doppelt so hoch ist?» – «Aber für die Wirtschaft ist es wichtig …»
Es geht um die fünf Referenden, über die kürzlich in Italien abgestimmt wurde. Initiiert von der linken Opposition und den Gewerkschaften, drehten sie sich um Verbesserungen im Arbeitsrecht (unter anderem Kündigungsschutz und Haftung bei Arbeitsunfällen) sowie um die Möglichkeit, dass Menschen aus Nicht-EU-Ländern schneller die Staatsbürgerschaft beantragen können. Die Vorlagen wurden zwar deutlich angenommen (die vier zum Arbeitsrecht mit 85 Prozent, jene zur Einbürgerung mit 64 Prozent Ja-Stimmen!), sie scheiterten jedoch an der tiefen Wahlbeteiligung (30 Prozent), da laut italienischem Gesetz über die Hälfte der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilnehmen muss.
Somit ist der Plan der extrem rechten Regierung aufgegangen, die im Vorfeld der Abstimmung offen zum Boykott aufgerufen hatte. Zu Hause bleiben oder ans Meer fahren, so lautete die mehr oder weniger offizielle Empfehlung der Meloni-Regierung. Die Premierministerin selber gab an, dass sie zwar abstimmen werde, aber so, dass ihre Stimme für ungültig erklärt werde. Ignazio La Russa, der als Präsident des Senats das zweithöchste politische Amt innehat, rühmte sich seiner «Propaganda» fürs Zuhausebleiben und seiner eigenen Enthaltung, woraufhin Oppositionsführerin Elly Schlein an die Bürger:innenpflicht des Abstimmens erinnerte.
Nach Bekanntgabe der Resultate spricht Maurizio Landini, Chef des Gewerkschaftsbunds CGIL, von einer «klaren Krise der Demokratie». Und der Journalist Lorenzo Tosa schreibt über Italien als «gleichgültiges, faules Land, das narkotisiert wird von einem öffentlichen Dienst, der diesen Namen nicht verdient. Ein Land, in dem sich Millionen von Italiener:innen über die ‹Politik› beschweren […]. Aber wenn es an der Zeit ist, abstimmen zu gehen, einen verfluchten Bleistift in die Hand zu nehmen und sich zu widersetzen, bleiben sie zu Hause oder gehen ans Meer.»
In Ascona geht derweil der Streit vor dem unendlichen Feuerwerk weiter. «Also, hab ich recht?» – «Nein, hast du nicht.» – «Doch, hab ich.» Filmreif spielen sie ein Gleichnis unserer Zeit: Drei Freund:innen streiten an ihrem freien Abend darüber, wie viel Ausbeutung gerecht ist im Namen der heiligen Wirtschaft. Während am anderen Ufer ein überreicher Kapitalist zum Ausdruck seiner Feierlaune die Jahreseinkommen aller unversicherten Arbeitsunfalltoten in die Luft schiesst.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie fährt diesen Sommer nicht ans Meer.