Italienische Gewerkschaften : Palästina bringt die Opposition in Schwung

Nr. 41 –

Seit Wochen streiken in Italien Hunderttausende gegen den Krieg in Gaza. Möglich wurde die eindrückliche Mobilisierung dank kampferprobten Basisgewerkschaften.

Diesen Artikel hören (12:50)
-15
+15
-15
/
+15
Menschen an der Demostration in Rom mit Palästina-Fahnen
Eine kaum erwartbare Welle des Protests: In Rom demonstrierten am Samstag eine Million Menschen, hier mit dem Heiligen Franziskus. Foto: Emanuela Bianconi, Reuters

Zwei Generalstreiks in weniger als zwei Wochen, Demonstrationen im ganzen Land, und das nicht nur in den grossen Städten: Zum Herbstbeginn erlebt Italien eine in dieser Breite kaum erwartbare Welle des Protests. Am 22. September waren eine Million, am 3. Oktober dann mehr als zwei Millionen Menschen, einen Tag später noch einmal eine Million allein in Rom auf den Strassen, um sich mit den Palästinenser:innen solidarisch zu zeigen. Millionen blieben dafür ihrem Arbeitsplatz fern.

Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza und ein Ende der Gewalt im Westjordanland, einen dauerhaften Frieden zwischen zwei unabhängigen Staaten, Israel und Palästina, sowie die Bestrafung der Kriegsverbrechen Benjamin Netanjahus und seiner Verbündeten. Dazu zählen sie auch die italienische Regierung unter Giorgia Meloni, der sie «Mittäterschaft am Genozid» vorwerfen. Auch die Polizei zeigte sich überrascht von der Zahl der Demonstrierenden. Wegen der «aussergewöhnlich grossen Beteiligung», so eine Erklärung des Polizeipräsidiums von Rom, gab sie am 3. Oktober auch Strassen frei, die sie vorab gesperrt hatte. Wie aber kam es zu dieser unerwarteten Mobilisierung?

Lokal und libertär

Zum einen ist die Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza seit langem ein Anliegen vor allem der jüngeren Generation. Schüler:innen und Studierende gehen seit Monaten immer wieder für «Free Palestine» auf die Strassen, sie besetzen Schul- und Unigebäude und werden dabei oft zum ersten Mal in ihrem Leben mit krasser Polizeigewalt konfrontiert. Israels Angriff auf die Global Sumud Flotilla vergangene Woche und die Weigerung der Meloni-Regierung, wenigstens zugunsten der dabei festgenommenen 29 Italiener:innen zu intervenieren, provozierten schon in der Nacht nach der Attacke spontane Proteste. Die koordinierten landesweiten Aktionen waren aber nur möglich, weil sich Kräfte an die Spitze setzten, die über Kampferfahrungen und das nötige organisatorische Know-how verfügen: die Basisgewerkschaften.

Die ersten Basiskomitees (Comitati di base, Cobas) gründeten sich 1986 im Bildungswesen und bei der staatlichen Eisenbahn. 1990 folgte die Confederazione italiana di base – Unicobas, 2010 das Sindacato intercategoriale Cobas (S. I. Cobas). «Intercategoriale» bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie branchenübergreifend. Heute gibt es starke Basisgewerkschaften in der Logistik, aber auch in fast allen anderen Bereichen.

Gemeinsam ist ihnen die lokale, nichtzentralisierte Struktur und eine – zumindest dem Anspruch nach – libertäre Orientierung. Sprecher:innen dürfen nicht gleichzeitig Parlamentsmandate ausüben. Ihre Mitglieder sind nicht nur in den Betrieben, sondern auch in vielen Sozialzentren aktiv. Sie werden mehrheitlich dem linken Spektrum zugerechnet; migrantische Arbeiter:innen sind stark vertreten. Im Lauf der Jahrzehnte gab es Spaltungen und Fusionen; die derzeit besonders präsenten Gruppierungen firmieren als USB, CUB, SGB, S. I. Cobas, Unicobas oder ADL.

Wie S. I. Cobas in den Betrieben neue Mitglieder gewinnt, schilderte 2018 der aus Marokko eingewanderte Karim Facchino in einem Interview mit der deutschen Monatszeitung «Analyse und Kritik»: «Sie klären dich über deine Rechte auf, die wir vorher gar nicht kannten. Wir sind sofort los und haben uns an einem Streik beteiligt. Die Menschen haben dem Boss ins Gesicht geschaut und hatten keine Angst mehr.» Das zahlte sich aus, wie der Sprecher von S. I. Cobas, Aldo Milani, im selben Interview ergänzte: Viele Arbeitsmigranten hätten im Logistikbereich wie Sklaven gearbeitet und nur 700 Euro verdient. «Inzwischen sind es zumindest 2000 Euro, und sie haben mehr Ferientage.»

Die Cobas beschränken sich allerdings nicht auf die Organisierung neuer Mitglieder und den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Von Anfang an nahmen sie auch Stellung zu politischen Konfliktthemen. Besonderen Stellenwert hatte und hat dabei der Antimilitarismus. 1990 organisierten sie einen Streik gegen den ersten Golfkrieg. Mit Arbeitsniederlegungen versuchten in Basisgewerkschaften organisierte Hafenarbeiter:innen auch immer wieder, Waffenexporte in Kriegs- und Krisengebiete zu verhindern (siehe WOZ Nr. 47/21). In den vergangenen Wochen blockierte etwa das Kollektiv Gruppo autonomo portuali (Gap) in Livorno mehrere israelische Schiffe. Blockaden gehören zu den gängigen von den Basisgewerkschaften angewandten Aktionsformen, vor allem gegen bestreikte Betriebe samt Zufahrtstrassen. Das ist nicht ohne Risiko. Im Juni 2021 starb der Streikposten Adil Belakhdim, getötet von einem Lastwagenfahrer, der die Blockade des Lidl-Verteilzentrums bei Novara durchbrechen wollte.

Auch Teile der Justiz versuchen, die Aktivist:innen zu disziplinieren. 2022 stellte die Staatsanwaltschaft von Piacenza sechs Basisgewerkschafter unter Hausarrest. Die Anklage lautete: Bildung zweier krimineller Vereinigungen, Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sabotage, Verkehrsblockaden. Der absurde Anklagepunkt «kriminelle Vereinigung» wurde später fallen gelassen.

Hoffnung auf mehr

Die derzeit Streikenden sind indes der Hetze von ganz oben ausgesetzt. Ihnen gehe es doch nur um ein verlängertes Wochenende, höhnte Premier Meloni. Ihr Vize Matteo Salvini sieht in Arbeiter:innen, die sich der Polizei in den Weg stellen, «nicht Streikende, sondern Kriminelle». Regelmässig droht er mit Einschränkungen des Streikrechts. Wer eine Demonstration anmelde, solle künftig eine Kaution von 50 000 Euro hinterlegen, fordert er. Den Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes CGIL, Maurizio Landini, will er persönlich haftbar machen. Bis Jahresende seien vierzig Demos geplant, behauptet Salvini. Gegenüber dem Radiosender Mattino 5 fügte er hinzu: «Wer organisiert sie? Landini? Dann soll er auch zahlen!»

Offensichtlich unterscheiden Meloni, Salvini und ihresgleichen nicht zwischen Basiskomitees und «offiziellen» Gewerkschaften wie der CGIL. Diese hat sich nach anfänglicher Zurückhaltung am 3. Oktober immerhin der Protestbewegung angeschlossen – sicherlich auch, um nicht der basisgewerkschaftlichen Konkurrenz das Feld zu überlassen. Gleiches gilt wohl für die oft mutlosen oppositionellen Mitte-Links-Parteien. Deren grösste, der Partito Democratico (PD), diskutiert mit Blick auf die 2027 anstehenden Parlamentswahlen gerade über die erfolgversprechendste Taktik. Während die einen die Partei weiter in die «Mitte» – also nach rechts – rücken wollen, setzen die anderen, unter ihnen Generalsekretärin Elly Schlein, auf eine eher linke Profilierung. Dadurch sollen enttäuschte ehemalige PD-Wähler:innen zurückgewonnen werden, die in den vergangenen Jahren den Wahlurnen ferngeblieben sind.

Ob die aktuellen Mobilisierungserfolge die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Italien nachhaltig verändern werden, muss sich erst noch zeigen. Breite Bündnisse sind ebenso wünschenswert wie eine offene interne Debatte. Denn bei aller Wertschätzung insbesondere der Basisgewerkschaften dürfen deren Schwächen nicht übersehen werden. So schreiben die S. I. Cobas in einem offenen Brief an die Meloni-Regierung von der «Endlösung der Palästinenserfrage», behaupten einen Genozid auch im Westjordanland und setzen Israel in Anführungszeichen. Das sind, vorsichtig formuliert, Dummheiten, die korrigiert werden müssen.

Gleichwohl macht die Massenbewegung der vergangenen Tage Hoffnung auf mehr. Meloni sei ausgerechnet auf dem Gebiet der Aussenpolitik, wo sie sich bisher am sichersten gefühlt habe, in die Defensive gedrängt worden, schreibt die linke Tageszeitung «Il Manifesto». Deren stellvertretende Chefredaktorin Micaela Bongi sieht Anzeichen einer neuen Bewegung jenseits der traditionellen Orte und Institutionen. Ausgehend von der Palästinasolidarität entstehe massenhaft der Wunsch nach politischer Aktivität – auch gegen die Aufrüstung zulasten der Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit in Italien, ergänzt in dem Beitrag eine Demonstrantin, Francesca aus Florenz. Sie wird mit den Worten zitiert: «Wir wollten Palästina befreien. Jetzt hat Palästina uns befreit.»

Global Sumud Flotilla: «Wir mussten es versuchen»

Einer der von Israel Freigelassenen heisst Imanuel. Seinen vollständigen Namen möchte er nicht mehr in der Zeitung lesen – zu viele Anfeindungen hat er seit seiner Rückkehr erleben müssen. Der 44-Jährige aus Lausanne ist einer von 19 Schweizer Staatsbürger:innen, die auf der international koordinierten Flotte Global Sumud Flotilla mitgesegelt sind.

Drei Wochen lang war er gemeinsam mit acht weiteren Aktivist:innen auf einem kleinen Solidaritätsboot unterwegs. Ziel der Mission war es, auf die humanitäre Katastrophe in Gaza aufmerksam zu machen, die israelische Blockade zu durchbrechen und dringend benötigte Medikamente und Nahrungsmittel zu liefern.

«Uns war klar, dass unsere Chancen gering waren – aber wir mussten es versuchen», sagt Imanuel einen Tag nach seiner Rückkehr in die Schweiz am Telefon. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag der vergangenen Woche fing die israelische Marine die Boote ab. «Sie richteten Laser und Waffen auf uns und kamen an Bord», erzählt er.

Der Stopp der insgesamt über vierzig Schiffe hat auch in der Schweiz mobilisiert, am Donnerstagabend fanden sich Tausende zu spontanen Demonstrationen ein. Am grössten fielen die Proteste in Genf und Lausanne aus.

Imanuels Angaben lassen sich nicht überprüfen, stimmen aber mit denen anderer Aktivist:innen überein: Er berichtet von Schlägen gegenüber Mitreisenden durch das israelische Militär. Sie seien in fensterlosen Gefangenentransportern abtransportiert worden, saubere sanitäre Bedingungen oder medizinische Versorgung habe es nicht gegeben. Sie seien zwischen 11 und 23 Personen in einer Zelle gewesen – aus aller Welt. «Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde», sagt er.

Die Wärter:innen seien mit Hunden in die Zellen gekommen und hätten die Gefangenen angeschrien. Am Samstag seien sie zum Flughafen gebracht worden. Erst da, nach zwei Tagen, habe jeder eine Flasche mit sauberem Wasser erhalten, berichtet er. Von offizieller Seite habe er keine Unterstützung bekommen. «Am Freitagabend kam jemand von der Schweizer Botschaft und sagte, die Schweiz könne nichts für uns tun.»

Auf Anfrage heisst es vom Aussendepartement, das EDA habe vergangenen Freitag beim israelischen Aussenministerium sowie bei der Botschaft Israels in Bern interveniert, «um sein Missfallen darüber auszudrücken, dass die Botschaftsvertreter in der Haftanstalt sehr lange warten mussten und kein eingehendes Gespräch mit den inhaftierten Schweizerinnen und Schweizern möglich war – so wie dies der konsularische Schutz vorsieht».

Am Sonntagmorgen habe ein Team der Schweizer Botschaft die noch zehn inhaftierten Schweizer Staatsangehörigen treffen und mit ihnen sprechen können. Gleichzeitig weist das EDA darauf hin, dass es ausdrücklich von Reisen in den Gazastreifen abrate. Personen, die sich dennoch dazu entschlössen, täten dies laut Auslandschweizergesetz auf eigene Verantwortung.

Auch wenn die Aktivisti:innen ihr Ziel nicht erreicht hätten, sei das Vorhaben in gewisser Hinsicht dennoch gelungen, findet Imanuel. «Wir haben internationalen Druck erzeugt – etwas, das eigentlich die Staaten selbst tun sollten.» Informationen des Vereins Waves of Freedom zufolge wurden die letzten inhaftierten Schweizer Staatsangehörigen am Dienstag freigelassen.