Auf allen Kanälen: Im Killerklub
Was die US-Highschool von Columbine mit dem Massaker in Graz zu tun hat – und warum wir unsere Aufmerksamkeitsspanne dringend erweitern sollten.

Das mediale Interesse ist oft wie ein greller Scheinwerfer, der mehr blendet als erhellt. So auch kürzlich wieder, als ein ehemaliger Schüler in einem Grazer Gymnasium zehn Menschen ermordete. Die Medien reagierten umgehend mit Livetickern, Sondersendungen, Augenzeug:innenvideos, die sie meist einfach aus den sozialen Medien in die eigene Timeline reinkopierten. Der Fall Graz war am 10. Juni weltweit «Breaking News».
Die deutsche Plattform «Übermedien», die sich regelmässig um medienkritische Analysen verdient macht, bilanzierte zwei Tage später, die Berichterstattung zu Graz sei von «Schaulust» und Profitgier «statt Aufklärung» geprägt. Insbesondere die Jagd nach möglichst exklusiven Zitaten von Betroffenen und Angehörigen sei stossend. Fatal war auch die überstürzte Benennung eines Motivs. Der Mörder sei einst an der Schule gemobbt worden: Diese These tauchte unmittelbar nach der Tat auf und entwickelte – trotz Dementi der Polizei – eine beträchtliche Dynamik.
Columbine-Effekt
Heute sind die Scheinwerfer längst auf andere Schauplätze gerichtet. Die nun vorliegenden fundierten Untersuchungsergebnisse erhalten nur noch einen Bruchteil der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit. Dabei ist das sich nun abzeichnende Tatmotiv viel aufschlussreicher als die gesamte fiebrige Berichterstattung der ersten 24 Stunden. Die neuen Informationen könnten auch helfen, künftige Gewalttaten zu verhindern. Und sie geben Hinweise darauf, warum Mobbing bereitwillig als Begründung für das Morden akzeptiert wurde.
Der Schlüssel zum Verständnis der Bluttat von Graz liegt in einem 26 Jahre zurückliegenden Verbrechen in der US-Stadt Littleton – und dessen medialer Darstellung. 1999 ermordeten zwei Schüler an der dortigen Columbine Highschool vierzehn Menschen. Wie der US-Journalist Dave Cullen in jahrelanger Arbeit nachwies, ist vieles, was seither über die Täter geschrieben wurde, falsch. Auch sie waren weder gemobbt worden, noch hatten sie sich mit anderen schwachen oder geplagten Schüler:innen solidarisiert und diese quasi «gerächt». Derlei Schilderungen verwandelten die kaltblütigen Mörder in Märtyrer und Helden. Damit erfüllte sich der mit zahlreichen persönlichen Dokumenten belegte Hauptwunsch der beiden fast wie von selbst: Sie wurden berühmt. Und sie wurden zu Vorbildern.
Fürs Magazin «Atlantic» erstellte Cullen im vergangenen Jahr eine eindrückliche Grafik: Seit 1999 wurden 54 Massaker an Schulen mit direktem Bezug auf Columbine verübt. Der neuste Nachahmer ist der Mörder von Graz. Die Spuren seiner Onlineaktivitäten verraten eine intensive Beschäftigung mit Columbine und mit den beiden Mördern – er postete Videos, Fotos, Objekte, die in True-Crime-Communitys sofort als Columbine-Referenzen erkannt werden.
Manifest als Waffe
Doch wie bei vielen Fällen zuvor schob man auch beim Täter von Graz die Schuld rasch auf exzessives Gamen und zog küchenpsychologische Kurzschlüsse. Dabei vereint ihn und fast alle anderen «school shooters» vor allem eines: ein Todes- und Celebritykult und eine Besessenheit von der Bluttat von Columbine sowie weiteren medial ausgeschlachteten Massakern. Cullen zeigt, wie in einschlägigen Foren andächtig Schnipsel zusammengetragen und gefeiert werden, vor allem schriftliche Hinterlassenschaften und Fotos der Täter.
Dass etwa das Manifest des norwegischen Massenmörders Anders Breivik offenbar weiterhin online zu finden ist, wirkt im Licht dieser Erkenntnis ähnlich gefährlich wie die Tatsache, dass der Erwerb von Waffen in den meisten Ländern viel zu einfach ist. Letzteres wurde immerhin medial breit thematisiert – was nun in Österreich wohl zu einem leicht verschärften Waffengesetz führen wird. Die diskursive Bewaffnung des Täters im Netz wurde vor allem in der Wiener Wochenzeitung «Falter» in der gebotenen Ausführlichkeit problematisiert – inklusive Selbstkritik und dem Hinweis, dass falsche Einordnungen bereits mit einer achtlosen Wortwahl beginnen: «Amoklauf» klingt heroischer als «Massenmord». Entscheidend ist aber auch die Einsicht, dass jede Charakterisierung des Täters mit Fotos, Namen und biografischen Anekdoten aus ihm ein weiteres Vorbild machen kann.