Krieg im Iran: An den Toren zur Hölle

Nr. 26 –

Manche fliehen vor den Bombardements im Iran, andere kehren genau dorthin zurück: Im Osten der Türkei kreuzen sich in diesen Tagen viele iranische Lebenswege.

Diesen Artikel hören (10:17)
-15
+15
-15
/
+15
Menschen am Kapıköy-Grenzübergang zwischen dem Iran und der Türkei
Knotenpunkt zwischen mehreren Realitäten: Der Kapıköy-Grenzübergang zwischen dem Iran und der Türkei. Foto: Yasin Akgul, AFP

Fünf Tage sind seit dem Angriff Israels auf den Iran vergangen, als ich am Freitag in Van ankomme, einer Stadt ganz im kurdischen Osten der Türkei, etwa achtzig Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. Im Iran ist das Internet komplett abgeschaltet. Einzig das landesinterne Netz funktioniert noch, über das sich ausschliesslich staatliche Apps nutzen lassen.

Im Flugzeug war mir aufgefallen, dass viele Passagier:innen Persisch sprachen. Sie wollten bei ihren Familien sein, erzählten manche – trotz oder gerade wegen der Bombardements an dem Ort, der für sie Geborgenheit bedeutet. Eine Person am Flughafen sagte: «Ich würde am liebsten in meiner eigenen Wohnung sterben.» Manche sagten, sie kehrten zurück, weil sie den Schmerz der Trennung von ihren Familien nicht aushielten. Andere erklärten, sie könnten es sich schlicht nicht leisten, längere Zeit im Ausland zu bleiben. Sie müssen arbeiten, Angehörige pflegen. Oder sie haben ganz einfach kein gültiges Visum mehr.

«Wir sind sowieso am Arsch»

Am Tag zuvor hatten US-Präsident Donald Trump und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angekündigt, dass Teheran, eine Zehnmillionenstadt, «bald komplett evakuiert» werden müsse. Und damit auch der 3. Bezirk, in dem ich aufgewachsen bin.

Gefühlt neunzig Prozent meines Lebens habe ich in dem Stadtteil verbracht, bevor ich das Land mit 23 Jahren verliess. Ich bin im 3. Bezirk zur Schule gegangen, habe dort zum ersten Mal im Leben geraucht, mich gefühlt tausendmal mit meiner Mutter gestritten. Ich habe Verhöre bei der «Überwachungsbehörde für öffentliche Räume» über mich ergehen lassen, habe Beziehungen und Freundschaften begonnen und beendet – und mich vor mittlerweile genau neun Jahren nach Deutschland verabschiedet. Der Gedanke, dass es all das vielleicht bald nicht mehr geben könnte, ist fast noch weniger schwer zu ertragen als die Gewissheit, dass die Zerstörung «umsonst» passieren würde. Und dass die Menschen in den Ruinen mit noch weniger weitermachen müssten als bisher.

Als ich geboren wurde, war der Iran-Irak-Krieg, also der Erste Golfkrieg, erst seit drei Jahren beendet. Aber der Kampf ums Überleben war nicht vorbei. Das Regime, das sich im achtjährigen «heiligen Verteidigungskrieg» hatte festigen können, übernahm noch stärker die Herrschaft über das kollektive Leben. Die vollständige Isolation und die Sanktionen seitens der restlichen Welt sowie die Vertreibungen, die Massenhinrichtungen politischer Gefangener, die extreme Verarmung während des Krieges: All das führte dazu, dass es zunächst kein wirkliches politisches Leben mehr gab.

Menschen aus dem Iran auf der türkischen Seite des Kapıköy-Grenzübergang
Warten auf die Angehörigen oder die Weiterreise: Auf der türkischen Seite der Grenze. Foto: Rusen Takva, Keystone

In den letzten Jahren ist es wieder aufgekommen – aber jetzt, mit diesem Krieg, wird es erneut auf Eis gelegt. «Alles, was wir in den letzten Jahren mit sozialen Bewegungen und mit Blut und Schweiss aufgebaut haben, wird vor unseren Augen von der staatlichen Gewaltmaschine zerstört», schrieb mir eine Freundin. Von aussen, durch die israelische Militärmacht, und im Innern, durch die Repression des islamischen Regimes. «Was klar ist», sagt meine Sitznachbarin im Taxi, als wir vom Flughafen in die Innenstadt von Van fahren, «wir sind so oder so am Arsch. Egal ob mit oder ohne Regime.»

Am nächsten Tag fahre ich zur Kapıköy-Razi-Grenze im Vandoğusu-Gebirge. Im Minibus sind alle extrem müde und haben keine Lust, zu reden. Vor allem merken alle, dass hier drin jederzeit Streit ausbrechen könnte – weil die einen finden, der Iran müsse noch härter auf die Angriffe aus Israel antworten, während die anderen nicht wollen, dass der Krieg weitergezogen wird. Es herrscht stillschweigendes Einverständnis darüber, dass gerade niemand diese Debatte führen will, weil sie ja am Ende auch nichts an der Realität des Krieges ändert. Aber diese Anspannung, sie ist seit Kriegsbeginn überall, in jedem Raum zu spüren. Die Fronten werden mit jedem Tag härter und extremer.

Und dabei wächst der Druck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Es ist sehr schwer, mitten in all der Kriegspropaganda bei einer Ablehnung des Krieges und beider Seiten zu bleiben. Ich merke, wie ich gerade viele Freundschaften verliere – wegen der Nationalflaggen Israels, der Islamischen Republik oder auch der einstigen iranischen Monarchie, mit denen sich die Leute nun identifizieren. Also noch mehr Verluste. Ist das der «psychologische Krieg», von dem alle sprechen? Sollte er es sein, dann funktioniert er perfekt.

«Bye-bye, Islamische Republik!»

Wir nähern uns der Grenze, wo die Flaggen der Islamischen Republik flattern. Eine iranische Diversität wie hier habe ich lange nicht gesehen: Jung, Alt. Persisch, kurdisch, türkischsprachig. Monarchisten, Regimeanhängerinnen. Und daneben: «Ganz normale Menschen», wie eine Frau sagt. Sie meint damit all jene, die keiner dieser Gruppen angehören möchten. Entgegen meiner Erwartung treffe ich bloss auf etwa fünfzig bis sechzig Wartende. Das seien nicht mehr, aber auch nicht weniger als sonst, sagen die Fahrer. Die Anzahl der Menschen, die von der iranischen Seite her über die Grenze kommen, ist jedenfalls deutlich grösser.

Die Grenzregion um Kapıköy ist ein Knotenpunkt zwischen mehreren Realitäten. Ökonomisch ist sie ein Ort für Grenzhandel, wo kleine Transportunternehmen ihre Dienste anbieten und alltägliche Waren geschmuggelt werden. Geografisch verbindet sie die Türkei mit dem Iran, aber auch Nord- mit Ostkurdistan. Von Bergen umgeben, bietet sie seit Jahrhunderten Reise- und Fluchtwege. Vor einigen Jahren hat die Türkei eine riesige Grenzmauer gebaut, um Migration und Schmuggel einzudämmen.

Es gibt vereinzelt Kioske, die Wasser, Tee und Snacks verkaufen. Daneben versuche ich, mit jenen Menschen ins Gespräch zu kommen, die gerade über die Grenze gekommen sind. «Bei uns war es katastrophal», sagt eine Frau. Ein Mann sagt ebenso knapp, aber mit einem Lachen: «Bye-bye, Islamische Republik!» Die türkischen Soldaten schreien, man dürfe nicht direkt vor der Grenzkontrolle herumstehen.

Verzweifelt suchen die Menschen ein Stück Schatten, um auf Angehörige oder Taxis zu warten. Manche Kinder weinen, andere haben bereits neue Spielgefährt:innen gefunden. Die wenigsten Leute haben Lust, mit Journalist:innen zu reden. Schon gar nicht, wenn sie nach ihrer politischen Meinung gefragt werden. «Welche politische Meinung?», fragt ein Mann, mit dem ich kurz eine Zigarette rauche, «es ist halt Krieg.» Die meisten machen klar, dass sie mit einer öffentlichen Äusserung ihr Leben im Iran gefährden könnten – gerade jetzt, da viele wegen angeblicher Spionage verhaftet werden.

Auch am Samstag fahre ich zum Grenzübergang. Im Gegensatz zu gestern wollen weniger mitfahren. Mehrheitlich Frauen, alle erschöpft und von der Hitze genervt. Die meisten sind sich einig, dass der Krieg nicht mehr länger als zwei, drei Wochen dauern werde.

Ich lerne ein Paar kennen, das zu Beginn des Krieges noch im Iran war und nun ihr Kind, das nach Kanada weiterreist, über die Grenze nach Van begleitet hat. Ganz geduldig erzählen sie von ihren Erlebnissen: von Raketen und Abwehrraketen, mit denen sie sich jetzt plötzlich auskennen würden. Vom Fehlen von Sirenen und Schutzräumen, vom Internetausfall, vom Summen der Drohnen über der Stadt, vom stundenlangen Warten in Schlangen, von kranken Angehörigen und der verzweifelten Suche nach Medikamenten. Von Strafanzeigen wegen des Verstosses gegen die Kopftuchpflicht, die per SMS auch dann noch ausgestellt würden, wenn die Raketen einschlügen. Und von einer grossen Wut auf Israel und die USA, die jetzt im Iran weitermachten, was sie in Gaza begonnen hätten.

Dann sind wir da. Ich muss mich von meinen neuen Bekanntschaften im Taxi verabschieden, denn für mich endet der Weg hier – weiter komme ich seit einigen Jahren nicht mehr. Beim Verabschieden lacht meine Sitznachbarin und sagt: «Willkommen an den Toren zur Hölle.»

«Ein fucking Gefängnis?»

Am nächsten Tag erwache ich zur Nachricht, dass nun auch die USA den Iran angegriffen haben. «Es gibt keine Chance, da lebend rauszukommen, schau dir doch Afghanistan an!», schreibt meine Freundin, die seit gestern endlich wieder Internetzugang hat. Die Vorstellung, dass dieser Krieg in zwei, drei Wochen bereits vorüber sein könnte, verblasst. Von Hoffnung nichts mehr übrig.

Die nächsten Tage sind die Fortsetzung desselben Horrors. Der Eingang des Evin-Gefängnisses wird bombardiert. Jeden Tag stehen dort Angehörige und Familien der Insassen, um ihre Liebsten zu besuchen. Das Gefängnis kann nicht so rasch evakuiert, niemand dort drin medizinisch versorgt werden. «Ihr Bastarde bombardiert ein fucking Gefängnis – symbolisch?», schreibt eine Freundin, die mehrere Jahre ihres Lebens in Evin in Haft verbracht hat.

Am Dienstag dann erfahre ich von Donald Trump frühmorgens, dass es einen Waffenstillstand geben soll. Doch es bleibt unklar, wie glaubwürdig seine Ankündigung ist. Das sehen auch jene Leute so, die gerade mit mir am Busbahnhof von Van stehen. Hunderte sind da, es ist sehr viel los: Weil seit einer Woche alle Flüge ausgebucht sind, müssen die Menschen in die Nachbarstädte fahren, um irgendwie von hier weiterzukommen. Mit mir im Bus sitzt eine Frau, die den weiten Weg zu ihrer Tochter in München vor sich hat. «Ich weiss nicht, ob ich mehr Angst vor dem Krieg haben muss oder vor der Zeit danach», sagt sie.

Sanaz Azimipour (32) ist Aktivistin, Referentin, Akademikerin und Autorin. Sie ist in Teheran aufgewachsen und lebt seit 2016 in Berlin.