Iranische Machtverhältnisse: «Der Gesichtsverlust wird gegen innen gerächt»

Nr. 26 –

Das Regime ist geschwächt, aber die Repression wächst weiter. Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Saghi Gholipour über die Perspektiven im Iran und fragwürdige Reaktionen im Ausland.

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WOZ: Frau Gholipour, gemäss Menschenrechtsorganisationen wurden im Iran in den ersten zehn Tagen nach Kriegsbeginn rund 530 Zivilist:innen festgenommen, weil sie sich kritisch über die Regierung geäussert hatten. Warum nimmt die Repression nach innen genau in dieser Situation zu?

Saghi Gholipour: Es ist ein Muster. Sobald es Druck von aussen gibt, erhöhen die Machthaber den Druck nach innen. Im Irak-Iran-Krieg in den achtziger Jahren wurden massenhaft Menschen hingerichtet. Auch jetzt hat der Iran seit den ersten israelischen Angriffen zehn Personen hingerichtet, drei davon wegen angeblicher Spionage. Das Regime steht mit dem Rücken zur Wand. Und weil der Widerstand im eigenen Land weiter anhält, will es den Menschen die Hoffnung nehmen. Die Botschaft ist klar: Wir sind die Herrscher, euch wird niemand helfen.

WOZ: Auch die Hidschabpflicht für Frauen wird unvermindert durchgesetzt. Warum ist das den Machthabern in diesem Moment wichtig?

Saghi Gholipour: Das Kopftuch ist ein Symbol für die Unterdrückung des freien Willens, deswegen klammert sich das Regime so an dieses Gebot. Wenn das Kopftuch fällt, dann bröckelt das Regime. Darum wollen die Machthaber die Sittengesetze nutzen, um die Kontrolle im Innern auch in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten.

Die Aktivistin

Saghi Gholipour (41) ist Mitgründerin von Free Iran Switzerland. Der Verein wurde nach der Ermordung der 22-jährigen Mahsa «Jina» Amini durch die Sittenpolizei im September 2022 gegründet und fordert, dass sich die Schweiz für einen freien, säkularen und demokratischen Iran einsetzt.

Gholipour hat Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Iran studiert. Ihre Familie ist einst vor dem iranischen Regime geflohen. Seit ihrem zweiten Lebensjahr lebt sie in der Schweiz, derzeit in Zürich.

Portraitfoto von Saghi Gholipour

WOZ: Nach Kriegsbeginn soll in Teheran von Balkonen und Dächern auch die Parole «Tod für Chamenei» zu hören gewesen sein. Gibt es immer noch lauten Protest?

Saghi Gholipour: Als Israel die Führer der Revolutionsgarden mit Raketen tötete, war Schadenfreude zu spüren. Endlich seien jene weg, die seit 46 Jahren Terror ausgeübt hätten, hiess es. Doch schnell kehrte Ernüchterung ein. Die Menschen sind vor allem mit Überlebensfragen beschäftigt. Offiziell zählt man bereits über 400 zivile Opfer; die Menschen haben Angst, dass ihre Wohnungen bombardiert werden, Lebensmittel ausgehen, sie sterben könnten.

WOZ: Die israelische Regierung sagt, sie bombardiere vor allem militärische Ziele und sie wolle die iranische Bevölkerung vom Regime befreien.

Saghi Gholipour: Ich nehme ihr nicht ab, dass sie auch nur eine Sekunde lang an die iranische Bevölkerung denkt. Es sind einzig die eigenen Interessen, die im Vordergrund stehen. Für sie wäre das Ende des islamischen Regimes natürlich ein Vorteil, immerhin ist die Vernichtung Israels dessen Staatsdoktrin. Und Benjamin Netanjahu hat freilich ein Interesse daran, im Iran jemanden zu installieren, der seinen Interessen dient.

WOZ: Wer könnte diese Person sein?

Saghi Gholipour: Reza Pahlavi, Sohn des letzten Schahs, wird von Netanjahu unterstützt. Pahlavi lebt in den USA, er war in der Vergangenheit immer wieder in Israel, hat unter anderem mit Netanjahu gemeinsam die Klagemauer besucht. Seit Jahren bringt sich Pahlavi für eine hohe Position in Stellung, sollte das islamische Regime stürzen. Vergangene Woche erklärte er in einem Fernsehinterview, er habe einen Plan für eine hunderttägige Übergangsphase. Aber es ist nicht klar, was er politisch genau will und mit welchen Mitteln er das umsetzen würde.

WOZ: Und wie kommen seine Ambitionen bei den Iraner:innen an?

Saghi Gholipour: Selbstverständlich hat Pahlavi Anhänger:innen, doch die sind eher in der Minderheit. Er hat keine politische Erfahrung. Er kennt den Iran nicht, weil er den Grossteil seines Lebens im Exil verbracht hat. Überhaupt symbolisiert die Schahfamilie für viele Menschen ein korruptes, diktatorisches System. Nun hat Pahlavi die Bombardierung als Chance für einen ­«regime change» bezeichnet, das nehmen ihm viele seiner Landsleute übel.

WOZ: Sieht die iranische Bevölkerung Israels Angriff nicht als möglichen Befreiungsschlag?

Saghi Gholipour: Die Iraner:innen haben schlechte Erfahrungen mit Regimewechseln gemacht, die von aussen diktiert wurden. Sie haben das 1953 mit dem CIA-orchestrierten Putsch gegen Mohammad Mossadegh erlebt, den ersten demokratisch gewählten Premierminister. Die Menschen sehnen sich nach Selbstbestimmung: Sie wollen diesen Krieg nicht, sie möchten ihren Widerstand selbst organisieren, ohne Zwang von aussen.

WOZ: Ist ein Ende des Regimes derzeit überhaupt realistisch?

Saghi Gholipour: Was ist die Alternative? Ein Staat ohne Repressionsapparat ist möglich, es bedarf aber eines grossen Umbaus. Und es gibt durchaus Leute wie etwa die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi, die in der Lage wären, die staatlichen Strukturen neu aufzubauen. Diese Leute sitzen aber im Gefängnis.

WOZ: Wie könnte ein Wechsel hin zu einer zivilen Regierung denn gelingen?

Saghi Gholipour: Der Sturz tyrannischer Regimes geschieht in der Regel nicht friedlich. Entscheidend ist der Widerstand auf der Strasse. Und die Forderungen der iranischen Zivilgesellschaft sind seit Jahren die gleichen: die Revolutionsgarden auf die Terrorliste, Sanktionen gegen die Machthaber, Freiheit und die Einhaltung der Menschenrechte. Und wenn die «Jin, Jiyan, Azadî»-Bewegung 2022 nicht von westlichen Regierungen verraten worden wäre, hätten die Iraner:innen eine Chance gehabt. Das Regime musste aber bloss ein paar Lippenbekenntnisse zur Demokratie abgeben, und schon setzten sich westliche Regierungen wieder mit den Führern der Islamischen Republik an einen Tisch. Indem weder die Einhaltung der Menschenrechte noch die Mitsprache der politischen Opposition als Bedingung gestellt wurden, fiel man der iranischen Bevölkerung in den Rücken.

WOZ: Zuletzt hat auch Netanjahu bei einer Ansprache «Jin, Jiyan, Azadî» – Frau, Leben, Freiheit – als Slogan gebraucht. Was sagen Sie dazu?

Saghi Gholipour: Das ist ein absoluter Hohn. Dieser Mann steht für keinen dieser Begriffe. Die Menschen, die für ihre Freiheit im Iran auf die Strasse gehen, werden momentan mit Bomben aus Israel beschossen.

WOZ: Am Dienstag wurde eine Waffenruhe verkündet. Was ist von ihr zu erwarten?

Saghi Gholipour: Keiner Seite ist zu trauen, und die Situation ändert sich minütlich. Aber wie schon zu Beginn gesagt: Der «Gesichtsverlust» gegen aussen wird im Iran mit Sicherheit gegen innen gerächt. Es drohen weitere Exekutionen und Massaker, um jeglichen Widerstand zu ersticken.

WOZ: Wie stark ist das Regime im Land wirklich verankert?

Saghi Gholipour: Rund 85 Prozent der Bevölkerung lehnen es ab. Aber natürlich gibt es Verbandlungen. Je grösser die Familie, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, mit jemandem verwandt zu sein, der dem Regime angehört. Die Revolutionsgarden sind eine weitverzweigte Organisation, sie sind auch politisch und wirtschaftlich einflussreich. Wer etwa seinen Wehrdienst bei ihnen leistet, hat wirtschaftliche Vorteile. So treten ihnen junge Männer nicht zwingend wegen der Ideologie bei, sondern viel eher wegen der Einstiegsmöglichkeiten bei den Unternehmen, die den Revolutionsgarden gehören.

WOZ: Ist ein Putsch durch die Revolutionsgarden denkbar?

Saghi Gholipour: Ja, das ist nicht auszuschliessen. Dann würde eine Terrororganisation die Macht ergreifen. Die Zivilgesellschaft würde weiterhin unterdrückt, der Fokus auf den Kampf gegen Israel weiter bestehen.

WOZ: Gibt es eine linke Kraft, die an politischem Einfluss gewinnen könnte?

Saghi Gholipour: Alle Parteien im Parlament sind in irgendeiner Form vom Regime abhängig. Und die unabhängige Opposition sitzt praktisch gänzlich im Evin-Gefängnis in Teheran. Es gibt noch die Zivilgesellschaft und die Gewerkschaften. Im Mai etwa führten die Lastwagenfahrer einen landesweiten Streik durch. Und auch im Untergrund gibt es Netzwerke, es finden Gespräche statt. Aber alle Aufmüpfigen müssen um ihr Leben fürchten.

WOZ: Bei einem allfälligen Umsturz droht also ein Vakuum?

Saghi Gholipour: Das ist derzeit nicht das drängendste Problem. Wichtiger ist es, den Krieg zu beenden und bei Verhandlungen die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Wir machen uns riesige Sorgen um die politischen Gefangenen. Es wird derzeit nur noch schlimmer. Wie sich ein Machtvakuum füllen könnte, lässt sich im Moment nicht absehen. Aber was auch immer geschieht: Wichtig ist, dass die Zukunft in den Händen der iranischen Bevölkerung liegt.

WOZ: Angenommen, die inhaftierten Oppositionellen würden tatsächlich aus den Gefängnissen freigelassen: Könnten sie tatsächlich die Politik mitgestalten?

Saghi Gholipour: Die aktuelle Lage in Evin ist sehr unübersichtlich. Ein Teil der Gefangenen wurde abtransportiert. Die Frauen wurden ins Ghartschak-Gefängnis gebracht, das als Hölle für Frauen und Kinder bezeichnet wird. Doch zurück zu Ihrem Gedankenspiel: Ich denke, dass die Oppositionellen in den Gefängnissen einen viel direkteren Zugang zur politischen und sozialen Realität haben als die Oppositionellen im Exil. Und sie sind sehr gut untereinander vernetzt. Seit Jahren sind sie zusammen eingesperrt und können nichts anderes tun, als sich miteinander und mit den verschiedenen Ideen und Standpunkten auseinanderzusetzen. Nicht umsonst spricht man auch von der «Evin-Universität».

WOZ: Haben Sie den Eindruck, dass man im Ausland die Lage der Iraner:innen versteht?

Saghi Gholipour: Nein, die Iraner:innen fühlen sich sehr unverstanden. Etwa wenn an Palästinademos in westlichen Ländern Flaggen der Islamischen Republik auftauchen. Für die Iraner:innen, die dort seit 46 Jahren verfolgt werden, ist es ein absoluter Schlag ins Gesicht, wenn jetzt westliche Linke kommen und ihnen sagen, Israel sei der grössere Feind. Vor drei Jahren ging man noch zusammen mit den Iraner:innen auf die Strasse und forderte einen Sturz des Regimes.

WOZ: Welche Flagge würden Sie denn vorschlagen?

Saghi Gholipour: Ein «Nein zum Krieg! Nein zur Islamischen Republik!» wäre doch eine Lösung. Der Krieg Israels gegen Gaza ist natürlich zu verurteilen. Aber er legitimiert die iranische Führung nicht, ihn für die eigene Agenda und letztlich für die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung zu missbrauchen.