Asylpolitik: In Bern beobachten sie den Krieg

Nr. 27 –

Künftig sollen Ukrainer:innen aus «sicheren» Gebieten den Schutzstatus S nicht mehr erhalten, so will es der Bundesrat. Nach dem Entscheid bleiben die meisten Fragen offen.

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Menschen in einem Bunker in Lwiw
Wie sicher ist eine Region, in der jede Nacht wegen drohender Angriffe aus der Luft die Sirenen heulen? Menschen in einem Bunker in Lwiw. Foto: Daniel Ceng Shou-Yi, Imago

Zum Beispiel Poltawa. Ganze 92 Mal ertönte in der zentralukrainischen Region im Juni der Luftalarm; während insgesamt sieben Tagen und zehn Stunden heulten die Sirenen. Von den dreissig Explosionen, die das Gebiet erschütterten, traf eine den Bahnhof der gleichnamigen Grossstadt: Fenster barsten, Gebäude und Zugwaggons wurden beschädigt. Verletzt wurde bei dem Angriff glücklicherweise niemand. Aber sind Menschen, die aus dem Oblast Poltawa in die Schweiz fliehen, deshalb nicht «an Leib und Leben bedroht»?

Mit dieser und ähnlichen Fragen wird sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) wohl bald intensiv beschäftigen müssen. In seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause hat der Bundesrat am Mittwoch letzter Woche einen weitreichenden Entscheid gefällt: Künftig soll die Ukraine in «sichere» und «unsichere» Gebiete aufgeteilt werden; nur wer aus einer «unsicheren» Region kommt, erhält noch den kollektiven Schutzstatus S; alle anderen müssen ein reguläres Asylgesuch stellen. Die geplante Massnahme soll nur für jene Geflüchteten gelten, die neu in die Schweiz kommen.

Bemerkenswerter Alleingang

Wie genau die Sicherheit eines ukrainischen Gebiets bemessen werden soll, bleibt trotz einer Anfrage ans SEM vage. Schliesslich gab es im letzten Monat in allen über zwei Dutzend Oblasten des Landes Luftalarm, mussten sich die Bewohner:innen also vor potenziellen russischen Drohnen- und Raketenattacken in Sicherheit bringen.

Man beobachte die Situation «laufend», schreibt das Migrationsamt. Bei der Beurteilung werde «insbesondere die Häufigkeit und Intensität von Luftschlägen und der Einsatz von Bodentruppen» berücksichtigt. Hinzu kämen Faktoren wie «das Vorhandensein einer medizinischen oder sanitären Infrastruktur oder von bewohnbaren Unterkünften, die Zerstörung ziviler Infrastruktur oder verminte Gebiete und nicht explodierte Kampfmittel». Die Frage, ab wie vielen Luftschlägen pro Monat eine Region als «unsicher» eingestuft würde, beantwortet das SEM nicht.

Mit der Praxisänderung setzt der Bundesrat eine Motion der St. Galler SVP-Ständerätin Esther Friedli um, die das Parlament letztes Jahr angenommen hatte. In den Ratsdebatten hatte SP-Justizminister Beat Jans noch vehement gegen die Vorlage argumentiert: «Angesichts der instabilen Kriegssituation wäre eine regional differenzierte Anwendung des Schutzstatus nicht zu verantworten», betonte er damals im Ständerat. Rund ein Jahr später scheint das nicht mehr zu gelten – und das in einer Zeit, in der viele Regionen in der Ukraine so stark unter russischem Beschuss stehen wie lange nicht mehr.

Neben dem Inhalt des Beschlusses ist auch der Schweizer Alleingang bemerkenswert. Man stehe «in engem Austausch» mit anderen europäischen Staaten, «da unsere Migrationspolitik nie losgelöst von der europäischen ist», schreibt das SEM. Die Aussage überrascht, steht doch eine ähnliche Aufteilung, wie die Schweiz sie nun plant, in den EU-Ländern derzeit nicht zur Debatte. Gerade kürzlich hat die EU-Kommission vorgeschlagen, den kollektiven Schutzstatus für ukrainische Geflüchtete bis März 2027 zu verlängern. Die Mitgliedstaaten stimmten dem Anliegen zu. In Brüssel dürfte man vom Berner Entscheid entsprechend wenig halten.

Eine ähnliche Politik wie die der Schweiz verfolgt hingegen Norwegen. Seit Mitte Januar gelten dort vierzehn Regionen im Westen und im Zentrum der Ukraine als «sicher», darunter auch der eingangs erwähnte Oblast Poltawa. In der Parlamentsdebatte wurde das nordische Land denn auch als Vorbild genannt.

Erhöhter Prüfaufwand

Eine Liste «sicherer» Gebiete, wie Norwegen sie kennt, werde es nicht publizieren, teilt das SEM mit. Nimmt man die Liste aus Oslo aber als Grundlage, zeigt ein Blick in die Statistik: Die meisten Ukrainer:innen, die in der Schweiz bisher Schutz suchten, kommen aus «unsicheren» Regionen. Zwar erfasst das Migrationsamt die genaue Herkunft erst seit dem Sommer 2022, weshalb es diese auch nur bei 28 000 von den insgesamt rund 69 000 Geflüchteten kennt; von diesen aber kommen über 21 000 aus Gebieten wie Kyjiw, Charkiw oder dem besetzten Donezk. Vor diesem Hintergrund dürfte ein Grossteil der Ukrainer:innen also weiterhin den Status S erhalten.

Bevor der Entscheid des Bundesrats definitiv wird, sollen involvierte Akteur:innen konsultiert werden – neben den Hilfswerken und dem Uno-Flüchtlingswerk UNHCR auch die Kantone. Gerade sie dürften von der Weisung kaum begeistert sein, müssten sie doch mit beträchtlichem Mehraufwand rechnen: Solange Russlands Krieg gegen die Ukraine andauert, dürften auch Geflüchtete aus «sicheren» Gebieten eine «vorläufige Aufnahme» erhalten, was die kantonalen Strukturen verstärkt in Anspruch nähme. Dass es inskünftig mehr zu tun geben wird, bestätigt auch das SEM: Bei einer regionalen Differenzierung sei «mit einem erhöhten Prüfaufwand» zu rechnen, da «vertiefte Abklärungen» notwendig seien.

Die meisten Fragen rund um die Praxisänderung beim Status S bleiben derzeit also offen. Klar ist allerdings: Mit der Berner Spiegelfechterei werden vielleicht die Hardliner:innen der SVP besänftigt. Bei jenen aber, die in der Schweiz vor Krieg und Gewalt Schutz suchen, schafft der Plan bloss neue Unsicherheit.