Flucht und Trauma: Zuerst die Mütter stabilisieren
40 000 Betten in privaten Haushalten bietet die Schweizer Bevölkerung Geflüchteten aus der Ukraine an. Der enge Kontakt mit traumatisierten Menschen kann jedoch sehr belastend sein.
Es ist eine Premiere. Der Bundesrat hat letzten Freitag vorgeschlagen, den Schutzstatus S zu aktivieren. Ursprünglich nach dem Jugoslawienkrieg geschaffen, ermöglicht dieser Status die unbürokratische Aufnahme von grossen Gruppen Geflüchteter. Diese dürfen sich ein Jahr in der Schweiz aufhalten, nach maximal drei Monaten einer Arbeit nachgehen und im Schengen-Raum frei reisen. Sie können Angehörige mittels Familiennachzug aus der Ukraine hierherholen – und sie dürfen bei Privatpersonen wohnen.
Inzwischen haben zwei Millionen Menschen die Ukraine verlassen. Die meisten wollen in den Nachbarländern bleiben, in der Hoffnung, möglichst bald wieder nach Hause zurückzukönnen. Je länger der Krieg jedoch andauert, desto mehr werden sich die Flüchtenden in anderen europäischen Ländern verteilen. In der Schweiz sind bisher rund 900 Flüchtlinge registriert. Es dürften einige mehr sein, da Ukrainer:innen visumsfrei einreisen und neunzig Tage bleiben können. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rechnet künftig mit rund tausend ukrainischen Flüchtlingen pro Woche. Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) sowie der Kampagnenplattform Campax haben sich zahlreiche Menschen gemeldet, die Geflüchtete bei sich zu Hause beherbergen möchten. Bis Redaktionsschluss standen 40 000 Betten zur Verfügung.
Dass nicht einfach eine neue Untermieter:in einziehen wird, liegt auf der Hand. Je länger der Krieg andauert, desto traumatisierter werden die Ankommenden sein. «Die ersten Menschen, die geflüchtet sind, waren noch nicht so mit dem aktiven Kriegsgeschehen konfrontiert», sagt Bernice Staub vom Zentrum für Psychotraumatologie Gravita des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) in St. Gallen, das Traumatherapie für Geflüchtete anbietet. «Aber jene, die noch im Land sind, erleben sehr viel schlimmere Dinge.»
Wer eine Familie bei sich zu Hause beherberge, solle sich nicht möglichst tolle Unterhaltungsprogramme für die Kinder ausdenken, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die zuvor im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des SRK in Bern gearbeitet hat. In erster Linie sei es wichtig, die Eltern zu stabilisieren. Dann seien diese auch wieder fähig, ihren Kindern Sicherheit zu vermitteln: «Eine traumatisierte Mutter kann nicht gut in Beziehung sein mit ihrem Kind. Das merken die Kinder und werden unruhig. Wenn die Mutter später eine Psychotherapie machen kann, beruhigen sich wahrscheinlich auch die Kinder.» Die Mütter müssten Raum haben, selbst aktiv zu bleiben und etwa den Tagesablauf mit ihren Kindern selbst zu gestalten. «Wer ein Trauma erlebt, erfährt einen extremen Kontrollverlust. In den Bombardements haben die Betroffenen überhaupt keine Kontrolle darüber, was passiert. Man muss ihnen das Gefühl zurückgeben, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen können.» Genügend Raum für Rückzug ist ebenso wichtig wie eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr und die Möglichkeit, andere Menschen zu treffen, sich zu vernetzen und die Muttersprache zu sprechen.
Sowohl Kinder als auch Erwachsene können unter Albträumen leiden. Ein Kind soll man wecken und ihm die Realität zeigen, ihm vermitteln, dass es in Sicherheit ist. «Möglicherweise spielen die Kinder den Krieg auch nach», so Staub. Es sei wichtig, dass die Erwachsenen dann mitspielten und die Geschichte aber positiv zu Ende brächten. Etwa so: «Es kommt der Krankenwagen und bringt alle Legomännchen ins Spital, wo sie operiert werden und dann wieder zu ihrer Familie zurückkehren können.» Ein gutes Mittel gegen Angst und innere Anspannung sei Sport: «Wenn man Angst hat, wird man steif. Es kann sein, dass man die sensorische Wahrnehmung abschaltet, nicht mehr sieht oder hört, oder man bewegt sich nicht mehr. Beim Sport spüren die Kinder ihren Körper wieder.»
Angst um die Väter
Wenn sich die Symptome nach Wochen nicht bessern, muss man unbedingt Fachleute beiziehen. Dolmetscherinnen kommt dabei eine zentrale Rolle zu: «Ein Mensch mit einer posttraumatischen Belastungsstörung lernt nicht gut Sprachen, das Gedächtnis ist zu belastet mit Erinnerungen.» Staub erinnert sich an einen sechsjährigen syrischen Jungen, der lange nicht auf die Therapie ansprach und erst mit einem Dolmetscher erreicht werden konnte. So stellte sich heraus, dass er beim Vater auf dem Handy Bilder von toten Menschen gesehen hatte. «Ohne Übersetzer findet man solche Sachen nicht heraus», sagt Bernice Staub. «Man darf Kinder auf keinen Fall mit solchen Bildern und Nachrichten konfrontieren.»
Von ihrer Arbeit mit Kindern, die aus Aleppo vertrieben wurden, weiss Bernice Staub, dass viele wieder angefangen haben, das Bett zu nässen. «Ich nehme an, dass die ukrainischen Kinder, die heftige Bombardements erlebt haben, ähnlich reagieren», sagt Staub. «Traumatisierte Kinder fallen oft wieder in ihrer Entwicklung zurück.» Es könne auch sein, dass sie sich nicht mehr selbst anzögen, nicht mehr mit fremden Leuten sprächen oder ihre Mutter nicht mehr aus den Augen liessen und nachts mit ihr im Bett schlafen wollten. Das könne sich mit der Zeit wieder geben. «Ich bin allerdings nicht so zuversichtlich, weil die Angst um die Väter bleibt, die im Krieg sind.»
Professionelle Begleitung
Diesen Aspekt betont auch Denise Graf. Sie hat viele Jahre bei Amnesty International gearbeitet und engagiert sich nun bei Bleiberecht Neuchâtel. Viele Frauen, die in die Schweiz kommen, werden lange nichts von ihren Ehemännern, Brüdern oder erwachsenen Söhnen hören. Sie müssen damit rechnen, dass diese gefangen genommen oder getötet werden. «Die Informationen über den Krieg und die Bombardements sind tagtäglich traumatisierend. Ich rechne auch mit schweren Kriegsverbrechen, die man erst nach Kriegsende aufarbeiten kann», so Denise Graf. «Das kann über Jahre hinweg eine unerträgliche Situation sein. Da braucht es unbedingt professionelle Begleitung.» Hilfsorganisationen und der Bund sollten Projekte für Gruppentherapien unterstützen, weil sehr viele Frauen dasselbe erleben werden. «Eine Einzelperson, die nicht vom Fach ist, kann das nicht stemmen. Kontakt mit traumatisierten Personen kann sehr belastend sein.»
Die SFH trifft zurzeit Abklärungen mit Kantonen und Gemeinden, damit die Begleitung von Gastfamilien und Geflüchteten sichergestellt ist. «In jeder Region soll es einen lokalen Partner geben, sei es ein Hilfswerk oder eine kantonale Behörde, die sowohl für die Geflüchteten als auch die Gastfamilien als Ansprechpartner fungiert und, falls nötig, auch bei Konflikten vermitteln kann», so Eliane Engeler von der SFH.
So erfreulich es ist, dass die Unterbringung bei Privaten ermöglicht wird, zeigt sich doch auch die Ungleichbehandlung von Geflüchteten. So ist der Status S bisher nur für ukrainische Staatsbürger:innen vorgesehen. Drittstaatler:innen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, dürfen nicht in der Schweiz bleiben.* Denise Graf wünscht sich zudem, dass sich die Schweizer Behörden nun auch bezüglich anderer Flüchtlingsgruppen grosszügiger zeigen. Sie kennt Fälle von schwangeren Frauen, die im Bundesasylzentrum in Boudry leben und nicht zu ihren Ehemännern ziehen dürfen. «Ich hoffe, dass es nun zu einem generellen Umdenken kommt und private Unterbringung grundsätzlich allen Flüchtlingen erlaubt wird.»
* Nachtrag vom 14. März 2022: Später präzisierte der Bundesrat, dass auch Drittstaatler:innen bleiben dürfen, sofern sie in ihrem Herkunftstaat nicht in Sicherheit leben können.