Die nächste Pandemie?: Gefährliche Ignoranz
Das Mpox-Virus breitet sich in Afrika weiter aus. Es ist eng mit den Pocken verwandt, einer der verheerendsten Infektionskrankheiten der Menschheitsgeschichte. Doch im Globalen Norden scheint man sich darum nur wenig zu kümmern.
Wenn es um die nächste Pandemie geht, stehen die Influenza- und Coronaviren weit oben auf der Liste der möglichen Erreger. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält das Mpox-Virus, das sich in Afrika seit längerem ausbreitet. Hin und wieder findet es seinen Weg nach Europa, zum Beispiel im April, als in der Schweiz erstmals ein Fall einer aggressiveren Mpox-Variante nachgewiesen wurde. Das Bundesamt für Gesundheit reagierte mit einer beschwichtigenden Medienmitteilung: Die aus Afrika zurückgekehrte Person sei isoliert worden, es bestehe keine Gefahr für die Allgemeinheit.
Doch Mpox sollte die Weltöffentlichkeit mehr interessieren. Denn die früher als «Affenpocken» bekannte Krankheit ist eng mit den Pocken verwandt, einer der verheerendsten Infektionskrankheiten in der Geschichte der Menschheit. Allein im 20. Jahrhundert starben 300 Millionen Menschen an der Seuche. In einem beispiellosen Akt internationaler Zusammenarbeit gelang es der Weltgemeinschaft in den siebziger Jahren, sie auszurotten. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Welt für pockenfrei und stoppte die Impfprogramme.
Während das Pockenvirus langsam von der Erdoberfläche verschwand, tauchte aber ein verwandtes Virus auf: Das Mpox-Virus wurde 1958 bei Affen entdeckt und 1970 in der Demokratischen Republik Kongo erstmals bei einem Menschen nachgewiesen. Der Epidemiologe David Heymann, der in den siebziger Jahren Ausbrüche von Mpox in Afrika untersuchte, erinnert sich: «Als ich Mpox zum ersten Mal sah, konnte ich es nicht von den Pocken unterscheiden, die ich einige Jahre zuvor in Indien gesehen hatte. Es war eine schwere Krankheit, aber glücklicherweise eine mit einer niedrigeren Sterberate.»
Neu von Mensch zu Mensch
Schon damals plagte Infektiolog:innen eine Frage: Könnte das Mpox-Virus die ökologische Nische ausfüllen, die durch die Ausrottung der Pocken entstanden war? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Lange blieb es um dieses Virus relativ ruhig. Seit einigen Jahren steigt jedoch die Zahl der Mpox-Fälle in verschiedenen afrikanischen Ländern exponentiell an. Und: Die Viren passen sich immer besser an den Menschen an.
Zum Krankheitsbild von Mpox gehören Fieber, geschwollene Lymphknoten und die typischen Pusteln und Bläschen an Haut und Schleimhaut. Bei immungeschwächten Personen und Kindern verläuft die Krankheit oft schwerer. Es können auch Komplikationen an den Augen auftreten, die unbehandelt zu Blindheit führen können. In seltenen Fällen kann es zu Hirnentzündungen kommen.
Heute werden zwei Stämme oder «Kladen» des Virus unterschieden. Klade 1 ist in Zentralafrika verbreitet, Klade 2 in Westafrika. Klade 1 gilt als gefährlicher, da mehr Menschen daran sterben. «Bis vor wenigen Jahren waren fast alle Mpox-Fälle Zoonosen», sagt Placide Mbala, Professor für Medizin an der Universität von Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo – das heisst, meistens steckten sich Kinder oder Jugendliche im Wald bei einem infizierten Nagetier an. Das Virus verbreitete sich dann über engen Hautkontakt nur auf wenige Menschen, meist Familienmitglieder.
Dieses Muster begann sich 2017 zu ändern, als es in Nigeria zu einem Ausbruch kam, bei dem vor allem junge Männer in städtischen Gebieten betroffen waren. Sie wiesen Hautläsionen insbesondere im Genitalbereich auf. Diese Subklade 2b breitete sich in Nigeria über sexuelle Kontakte aus, ab 2022 fand sie auch globale Verbreitung unter Männern, die Sex mit anderen Männern haben. Genetische Analysen ergaben, dass sich das Virus verändert hatte und einfacher übertragen werden konnte. Seit Beginn des globalen Ausbruchs der Klade 2b wurden über 140 000 Fälle und 330 Todesfälle bestätigt. Auch die Schweiz zählte damals knapp 500 Fälle der Krankheit.
Der Ausbruch konnte dank Verhaltensänderungen und Impfungen rasch eingedämmt werden, doch verschwunden ist Klade 2b nicht, weder in Europa, wo sie sporadisch auftaucht, noch in Afrika, wo es in Sierra Leone aktuell über 4000 bestätigte Fälle gibt. «Wir sind immer davon ausgegangen, dass nur die Klade 2b leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden kann», sagt Mbala. «Die Kladen 1 und 2a hielten wir für zoonotische Kladen, die nur sehr begrenzt auf den Menschen übertragbar sind.»
Doch seit vergangenem Jahr ist klar, dass diese Annahme nicht zutrifft. «Mit der Identifizierung der Klade 1b und der aktuell anhaltenden Übertragung in Kinshasa beobachten wir derzeit eine Verschiebung», sagt Mbala. «Die Kladen 1a und 1b sind in den Grossstädten angekommen und werden durch sexuellen Kontakt übertragen. Die Viren weisen neue Mutationen auf, die diese anhaltende Übertragung auf den Menschen erklären könnten.»
Ist das Virus ansteckender geworden?
Seit 2022 hat sich die Zahl der Mpox-Fälle in Afrika jedes Jahr verdoppelt. Im Jahr 2024 gab es fast 20 000 bestätigte Fälle mit über 800 vermuteten Todesfällen, die meisten davon im Kongo. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden fast 25 000 Fälle bestätigt. «Wir glauben, dass alle heute bekannten Mpox-Linien eine anhaltende Epidemie auslösen können, wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind», sagt Mbala.
Was ist passiert? Ist das Virus wirklich ansteckender geworden? Wird heute mehr gestestet? Oder hat der Anstieg auch damit zu tun, dass inzwischen eine anfällige Generation herangewachsen ist? Schliesslich gewährte die bis in die siebziger Jahre verabreichte Pockenimpfung vor verwandten Pockenviren Schutz. Um das aktuelle Geschehen besser einordnen zu können, lohne sich ein Blick in die Geschichte, sagt Laurent Kaiser, Professor für Infektiologie an der Universität Genf. «Wenn wir schauen, was uns das verwandte Pockenvirus in den vergangenen Jahrhunderten gelehrt hat, kann uns das vielleicht helfen.»
Das Pockenvirus ist vergleichsweise riesig. Mit seinen 200 000 Basenpaaren, die die Bauanleitung für über 200 Proteine enthalten, gehört es zu den grössten Viren, die jemals den Menschen infiziert haben. Aufgrund ihrer Grösse können Pockenviren mit ihrem Erbgut auf eine Weise spielen, wie es kleinere Viren nicht können: Sie können Gene duplizieren oder verlieren. «Man könnte meinen, dass der Verlust eines Gens ein Nachteil ist. Das scheint jedoch nicht immer der Fall gewesen zu sein», sagt Kaiser. So habe der Virusstamm, der Millionen Menschen tötete, zehn bis vierzehn Gene verloren. «Es scheint, dass das Pockenvirus durch den Verlust der Gene die Anpassung an den Menschen sogar steigern konnte.»
Leider verfügt die Wissenschaft nur über rund fünfzig Genomsequenzen des Pockenvirus, gefunden etwa in Mumien oder in Proben aus der Wikingerzeit. Erbgutvergleiche zeigen, dass die Pocken keine einheitliche Krankheit waren. Vielmehr zirkulierten im Lauf der Jahrhunderte in verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Virusstämme gleichzeitig. Einige von ihnen führten bei dreissig Prozent der Erkrankten zum Tod, während beispielsweise ein in Südamerika verbreiteter Stamm nur milde Krankheitsverläufe verursachte.
Ähnliches deutet sich derzeit für das Mpox-Virus an. In den verschiedenen Regionen Afrikas zirkulieren unterschiedliche Kladen und Subkladen, in einigen Ländern sogar mehrere gleichzeitig. «Sie entwickeln sich unabhängig voneinander weiter», sagt Kaiser, «und genau das macht es so schwierig, das Verhalten eines solchen Virus vorherzusagen.»
Eine fundamentale Erkenntnis habe uns das Pockenvirus jedoch gebracht, so Kaiser. «Wenn das Virus über Aerosole in die Lunge gelangte, war die Sterblichkeit viel höher als bei einer Übertragung über die Haut.» Es war diese Beobachtung, die zur Impfung führte. Offenbar lässt die Infektion über die Haut dem Körper genügend Zeit, eine Immunantwort aufzubauen, die vor schwerer Erkrankung schützt. Tritt das Virus hingegen über die Atemwege in den Körper ein, ist dies nicht der Fall. «Und genau das wollen wir verhindern: dass Mpox sich an den Menschen anpasst und über die Luft übertragbar wird.»
Was ist also zu tun? Am wichtigsten: die Übertragungsketten unterbrechen. Je länger sich das Virus ausbreitet, desto mehr Möglichkeiten hat es, sich an den Menschen anzupassen. «Wir haben es nicht mit einem Virus zu tun, das potenziell ein Problem werden könnte, sondern mit einem, das bereits im Menschen zirkuliert», sagt Kaiser. «Wir müssen schnell reagieren und Ressourcen dort bereitstellen, wo sie am dringendsten benötigt werden.»
Die Mittel reichen nicht aus
Doch genau diese Dringlichkeit scheint ignoriert zu werden – zumindest wenn es um Ausbrüche im Globalen Süden geht. «Als es 2022 zum globalen Ausbruch kam, glaubten wir, dass die Weltgemeinschaft uns unterstützen würde, damit wir die Krankheit besser verstehen, die Übertragung stoppen und Impfstoffe entwickeln können», sagt Placide Mbala. «Doch geimpft wurde dann vor allem in den westlichen Ländern. Und als man dort 2023 einen Rückgang der Fälle feststellte, verloren sie das Interesse.»
Nach den jüngsten Ausbrüchen im Kongo rief die WHO im August 2024 erneut eine internationale gesundheitliche Notlage aus. Laut der Seuchenkontrollbehörde Africa CDC haben bis Ende Juni 2025 elf Länder 2,9 Millionen Impfdosen erhalten, von denen 731 000 bisher verimpft wurden. Um den begrenzten Impfstoff optimal zu nutzen, geht man gezielt vor: Für jeden Fall werden die Kontaktpersonen ermittelt. Geimpft werden zudem Personen, die ein hohes Expositionsrisiko haben und bei denen die Gefahr besteht, dass sie das Virus verbreiten. Dazu zählen Sexarbeiter:innen, aber auch Kinder.
Doch um die Ausbrüche eindämmen zu können, bräuchte der Kontinent 6,4 Millionen Dosen. Benötigt werden zudem Schnelltests, ein einfacher Zugang zu medizinischen Einrichtungen und Sequenzierkapazitäten, um die Evolution der Viren zu verfolgen.
Die Mittel reichen bei weitem nicht aus, um das Ausmass der Krise zu bewältigen. «Wir müssen uns jetzt für mehr Ressourcen einsetzen, damit unsere Kolleg:innen in Afrika ihre Arbeit machen können, die Epidemiologie dieser Infektion besser verstehen und die Ausbrüche stoppen können. Es wäre bedauerlich, wenn die Gelder erst dann fliessen würden, wenn die Klade 1 Europa und Nordamerika erreicht hat», sagt David Heymann.