Affenpocken: Ermöglicht durch Versäumnisse in der Vergangenheit

Nr. 25 –

Der Mensch als Virenreservoir: Der Ausbruch von Affenpocken in Europa und Nordamerika beunruhigt Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Gründen.

Die Affenpocken grassieren weiter. Inzwischen sind bereits mehr als 2100 Fälle ausserhalb Afrikas bestätigt, die meisten davon in Europa und Kanada. Die Zahl der Erkrankten wird in den nächsten Wochen noch steigen: Bei einer Affenpockeninfektion zeigen sich Symptome erst mit einer gewissen Verzögerung.

Möglicherweise kommt die Epidemie dann zum Stillstand – oder aber das Virus hält sich dauerhaft in gewissen Regionen oder Bevölkerungsgruppen, wird «endemisch», wie die Mediziner:innen sagen. Bereits endemisch sind die Affenpocken in Ländern wie Nigeria, der Zentralafrikanischen Republik oder der Demokratischen Republik Kongo. Während im Globalen Norden bisher erst ein bestätigter Todesfall bekannt ist, berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von bereits 69 Toten in Zentral- und Westafrika seit Jahresbeginn.

Generell verlaufen Infektionen mit Affenpocken milder als die klassischen Pocken. Das Virus verursacht zunächst Beschwerden, die einer Grippe ähneln: Fieber, geschwollene Lymphknoten, Kopf- und Gliederschmerzen. Dann bilden sich Pusteln und Bläschen auf der Haut, die allmählich verschorfen und manchmal Narben hinterlassen. Unbehandelt können Affenpocken schwere Erkrankungen verursachen, zum Beispiel lebensgefährliche Lungen- und Hirnentzündungen, und sie begünstigen bakterielle Zweitinfektionen wie Augenentzündungen, die bis zum Erblinden führen können.

Ungewohnte Muster

Die erste Infektion eines Menschen mit Affenpocken wurde bereits vor mehr als fünfzig Jahren festgestellt. Danach folgten sporadische Fallberichte meist aus Zentral- und Westafrika und durch Menschen oder Tiere eingeschleppte Fälle in den USA, Israel oder Grossbritannien.

Der aktuelle Ausbruch ausserhalb der Endemiegebiete beunruhigt Mediziner:innen, denn er verhält sich anders als bisherige: Als normale Infektionskette galt bis anhin die Übertragung vom Tier auf den Menschen, wobei kleine Nagetiere wie Hamsterratten, Spitzmäuse oder Hörnchen die tierischen Wirte des Virus sind. Zwar war bekannt, dass Menschen das Virus weitergeben können, aber Wissenschaftler:innen glaubten, dass die Nagetiere das eigentliche Virenreservoir darstellten und die Ausbreitung dadurch beschränkt blieb. Anders beim gegenwärtigen Ausbruch: Mensch-zu-Mensch-Übertragungen scheinen die Regel zu sein.

Auch die Art der Übertragung wirkt ungewöhnlich. Bisher galten Schmierinfektionen über direkten Hautkontakt als die wesentliche Gefahr, weil in den Hautbläschen Flüssigkeit mit hoher Viruskonzentration vorhanden ist. Aktuelle Berichte und Laboruntersuchungen deuten aber darauf hin, dass eine Ansteckung auch über Tröpfcheninfektion und wahrscheinlich über Körperflüssigkeiten möglich ist. Überraschend sind schliesslich die Ausprägungen der Krankheit: Viele Patient:innen entwickeln keine grippeähnlichen Symptome, sondern nur die Bläschen und Pusteln, die für Pockenerkrankungen typisch sind. Und diese treten nicht mehr unbedingt am ganzen Körper auf, sondern um die Genitalien und den Anus herum.

Milde Infektionen bleiben häufiger unbemerkt oder werden mit anderen Haut- und Geschlechtskrankheiten verwechselt, was die Ausbreitung des Virus erleichtert. Noch ist der aktuelle Ausbruch geprägt von Ansteckungen durch engen körperlichen Kontakt; die Infizierten sind vergleichsweise jung. Aber je länger das Virus zirkuliert, umso wahrscheinlicher wird es, dass es Bevölkerungsgruppen erreicht, für die Affenpocken eine echte Gefahr darstellen: Schwangere, Kinder, Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder Pflegebedürftige.

In dem wohl schlimmsten Szenario erschliesst sich der Erreger in Europa und Nordamerika ein neues tierisches Reservoir. «Wenn die Affenpocken in die Ratten gelangen, können wir nichts mehr dagegen tun», zitiert das US-Magazin «The Atlantic» Amesh Adalja vom Johns Hopkins Center for Health Security, ein Experte für neuartige Infektionen. Biolog:innen nennen den Vorgang «Spillback»: Während beim sogenannten zoonotischen Spillover ein Krankheitserreger vom Tier auf den Menschen übergeht, tragen in diesem Fall Menschen den Erreger von einer tierischen Gattung zu einer anderen. So wanderte beispielsweise Sars-CoV-2 von Menschen zu Nerzen, Weisswedelhirschen und Schneeleoparden.

«Es ist fraglich, ob es in Europa überhaupt Tierspezies gibt, die als Reservoirwirte geeignet wären», heisst es in einer Stellungnahme des Friedrich-Loeffler-Instituts, der veterinärmedizinischen Behörde des deutschen Bundesgesundheitsministeriums. Aber der gegenwärtige Wissensstand ist lückenhaft. 2003 kam es in den Vereinigten Staaten zu einem Affenpockenausbruch, der von Haustieren ausging. Importierte Hamsterratten hatten gezähmte Präriehunde infiziert. Die Gefahr eines neuen Reservoirs sei gering, aber realistisch, sagt denn auch Fabian Leendertz, Leiter des Helmholtz-Instituts für One Health und renommierter Zoonosenexperte, «weil die Affenpocken nicht sehr wirtsspezifisch sind, sondern ein breites Spektrum von Tieren befallen».

Auch die Frage, ob das Virus sich bereits verändert hat, beschäftigt Wissenschaftler:innen. Im Erbgut des Virenstamms, der für den aktuellen Ausbruch verantwortlich ist, wurden unerwartet viele Mutationen gefunden. Einige Virolog:innen vermuten, dass dies eine Folge der menschlichen Immunabwehr ist: Enzyme des Immunsystems hätten beim Versuch, das Virus zu eliminieren, dessen DNA attackiert und zerschnitten und dabei Spuren hinterlassen. Andere Forschende glauben allerdings, dass die Mutationen bereits erste Anpassungen des Virus im Menschen widerspiegeln.

Scharfe Kritik aus Afrika

Grosse Aufmerksamkeit finden die Affenpocken erst, seit sie den Globalen Norden erreicht haben. In einem offenen Brief beklagen Epidemiolog:innen aus Afrika, es herrsche Doppelmoral. «Jeder Fall von Affenpocken sollte mit der gleichen Aufmerksamkeit und Dringlichkeit behandelt werden, wie jetzt die Fälle in den europäischen und nordamerikanischen Ländern», heisst es. «Die Epidemie insgesamt muss gestoppt werden, nicht nur in der nördlichen Hemisphäre.»

Tatsächlich steigt im Kongo, in Nigeria und anderen Ländern der Region die Zahl der Affenpockenerkrankungen bereits seit vielen Jahren. Die Sterblichkeit liegt zwischen einem und elf Prozent. Ab 2017 traten vermehrt Fälle in Nigeria auf. «Wir haben bereits damals versucht herauszufinden, wie sich die Häufung erklären lässt», sagt Chikwe Ihekweazu, Direktor einer epidemiologischen Forschungseinrichtung der WHO und bis 2020 Leiter der Gesundheitsbehörde Nigerias, «aber die Affenpocken haben nie ausreichend Aufmerksamkeit bekommen.» Tatsächlich zeigen DNA-Sequenzierungen jetzt: Die gegenwärtige Epidemie hat ihren Ursprung im nigerianischen Ausbruch von 2017.

In ihrem Brief fordern die afrikanischen Forscher:innen, dass Pockenimpfstoffe, die auch gegen Affenpocken einen gewissen Schutz bieten, entsprechend der regionalen Betroffenheit verteilt werden sollen. Die WHO bereitet nun ein offizielles Verfahren zur Impfstoffverbreitung vor, damit reiche Länder nicht erneut rücksichtslos einkaufen und horten. Unklar ist, ob sich die Organisation damit durchsetzen kann.

Um das Affenpockenvirus einzudämmen, muss die Medizin eine Gleichung mit vielen Unbekannten lösen. Welche Reservoirs nutzt das Virus? Gibt es asymptomatische Infektionen? Wie lassen sich die Übertragungsketten unterbrechen? Wer soll geimpft werden? Derzeit ist offen, ob der Ausbruch eingedämmt werden kann. Klar ist nur: Seit 2017 konnte das Affenpockenvirus weitgehend ungestört zirkulieren.