Kolonialgeschichte: Wie eine Heimkehr

Nr. 27 –

Nach einem langen Rechtsstreit übergibt die US-Universität Harvard Fotos von Versklavten, die der Glaziologe Louis Agassiz im 19. Jahrhundert machen liess, dem International African American Museum.

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Tamara Lanier mit ihren Töchtern Shonrael und Megan anlässlich der Eröffnung der Agassiz-Ausstellung in Grindelwald
Mit dem Bild ihres versklavten Vorfahren Renty: Tamara Lanier (rechts) mit ihren Töchtern Shonrael (links) und Megan anlässlich der Eröffnung der Agassiz-Ausstellung in Grindelwald.

Louis Agassiz (1807–1873) aus Môtier studierte unter anderem in Zürich und legte in Neuchâtel den Boden für seine Karriere. Als Fischforscher war er brillant, als Glaziologe nur ein guter Verkäufer dessen, was andere vorgedacht hatten. Trotzdem widmete ihm die Expedition von 1840 ins Unteraargebiet, deren Leiter er war, einen Berg. 1846 reiste er in die USA und wurde dort zu einem der wirkmächtigsten «wissenschaftlichen» Rassisten des 19. Jahrhunderts. In Vorträgen und Aufsätzen propagierte er die Polygenese, also die Theorie, dass es keinen gemeinsamen Ursprung der Menschheit gebe, sowie die Hierarchie der «Rassen», bei der Schwarze zuunterst stünden. Spuren seines Denkens lassen sich bis zu Mussolini-Verehrern (Ezra Pound), Nazi-Rassehygienikern (Eugen Fischer) und Ku-Klux-Klan-Aktivisten (John Kasper) nachweisen.

Unsere 2007 lancierte Kampagne «Démonter Louis Agassiz» verlangte, das Agassizhorn in «Rentyhorn» umzubenennen und so ein Opfer des Rassismus von Agassiz zu ehren.* Dieser hatte 1850 in South Carolina einen Versklavten namens Renty aus dem Kongo fotografieren lassen, um mit damals neuster Technik (Daguerreotypie) die angebliche «Minderwertigkeit der schwarzen Rasse» zu beweisen.

Kritik von rechts wie von links

Wie erwartet gab es Kritik von rechts. Für Andreas Studer, Gemeindepräsident von Grindelwald, der Standortgemeinde des Agassizhorns, war das Ganze «eine Frechheit gegenüber einem unserer verdienstvollen Pionierväter». Der Gemeindepräsident von Guttannen (ebenfalls Standortgemeinde), Hans Abplanalp, fand, der Name «Rentyhorn» passe nicht ins Oberland: «Miär händ hiä keni N****!» Nachkomme Michel Agassiz drohte uns mit rechtlichen Schritten, weil wir den Namen eines «grossen Naturwissenschafters des 19. Jh. beschmutzen» würden. Ein Pierre Agassiz war überzeugt, nur ein Psychiater könne unseren Vorstoss verstehen, wir seien schuld, dass die Nachfrage nach dem Wein «Cuvée Agassiz» eingebrochen sei.

Kritik gab es auch von links. In der WOZ stellten uns Patricia Purtschert, Marina Lienhard und Jovita dos Santos Pinto in eine Reihe mit dem zweifelhaften Engagement des Tennisstars Roger Federer in Äthiopien und mit Kabarettistin Birgit Steinegger (in ihrer plump-rassistischen Rolle als «Frau Mgubi»). Die Forscherinnen warfen uns die Verwendung von Namen und Bild des versklavten Renty vor und verdächtigten uns der Beibehaltung des «patriarchalen Blicks» sowie der Fortführung einer «imperialen Praxis» und eines «rassistischen kolonialen Diskurses».

Auf der anderen Seite des Atlantiks sah die Afroamerikanerin Tamara Lanier aus Norwich (Connecticut) Rentys Bild im Rahmen unserer Kampagne. Sie erinnerte sich, dass man in ihrer Familie von «Papa Renty», einem Versklavten auf der Taylor-Baumwollplantage in South Carolina, erzählt hatte. Sie recherchierte und war bald davon überzeugt, dass Renty ihr Urururgrossvater sei. Sie kontaktierte uns und war 2012 bei der Vernissage unserer Ausstellung «Gletscherforscher, Rassist: Louis Agassiz (1807–2012)» im Heimatmuseum Grindelwald dabei. «Mein Ziel ist es, die Geschichte richtigzustellen», sagte sie in ihrer Rede. Dann hörten wir längere Zeit nichts mehr von ihr. 2019 kündigte sie an, sie werde die US-Universität Harvard, an der Agassiz als Professor gelehrt hatte, wegen Besitz und Verwendung des Bildes von Renty und dessen Tochter Delia anklagen. Die Bilder von insgesamt sieben Versklavten waren erst 1976 im zu Harvard gehörenden Peabody Museum gefunden worden.

Abdruckrechte verweigert

Lanier machte mit ihrer Ankündigung ernst. Zusammen mit den Anwälten Michael Koskoff (Verteidiger von Black Panther Bobby Seale, 1970) und Benjamin Crump (Vertreter der Familie von George Floyd, 2020) und mit Unterstützung von amerikanischen Agassiz-Nachkommen klagte sie Harvard wegen «unrechtmässiger Beschlagnahme, Besitz und monetärer Verwertung» der Bilder an und forderte deren Herausgabe sowie eine finanzielle Kompensation. Tatsächlich hatte Harvard den Abdruck der Bilder gegen Honorar gestattet, und zwar eher willkürlich. Unserer Agassiz-Ausstellung verweigerte Harvard die Abdruckrechte für das Bild von Renty. Die Ausstellung sei, so die Universität, weder künstlerisch noch wissenschaftlich, sondern politisch, und Renty müsse vor dem Abdruck geschützt werden, weil er diesem ja nicht zustimmen könne.

2021 lehnte der Supreme Court von Massachusetts Laniers Klage unter anderem mit der Begründung ab, nach allgemeinem Recht behalte der Fotograf und nicht die fotografierte Person das Eigentumsrecht. Lanier könne jedoch die Klage auf Schadenersatzanspruch wegen seelischer Grausamkeit, die sie als Nachkommin von Renty erlitten habe, weiterziehen.

Ende Mai hat Harvard nun entschieden, die Fotos von Renty und Delia an das International African American Museum in South Carolina zu übergeben. Tamara Lanier sagte der BBC: «Es gibt so viel, das Renty und Delia und die anderen versklavten Menschen mit diesem Teil von South Carolina verbindet, dass ihre Rückführung dorthin wie eine Heimkehrzeremonie wäre.»

* Der St. Galler Historiker Hans Fässler bemüht sich seit 2007 mit dem von ihm gegründeten «Transatlantischen Komitee Démonter Louis Agassiz», den berühmten Schweizer Naturforscher vom Sockel zu stürzen.