Literatur: Vom Weitermachen
Ein poetisches Archiv gegen das Vergessen: Joanna Yulia Kluges Roman «David Pablo» erzählt von drei Frauen, die um ihre Freiheit kämpfen müssen.
Am Anfang stehen sie im Wasser. Zwei Blicke treffen sich. Eine namenlose Ich-Erzählerin tauft ihr stummes Gegenüber «David Pablo». Sie gibt ihm einen Namen, um ihn des Tierseins zu berauben, jenes Zustands, in dem ein Mensch seiner Sprache und Würde entledigt ist. Das Benennen als erster Akt der Befreiung ist der Ausgangspunkt einer überraschend eindringlichen Erzählung, in deren Verlauf es zur treibenden Kraft gegen das Vergessen wird.
«David Pablo» ist der neue Roman von Joanna Yulia Kluge. Die 1987 geborene Solothurner Autorin und Slampoetin erzählt darin episodenhaft von den Schicksalen dreier Protagonistinnen: von Malena, einem Sinti:zzemädchen in Nazideutschland, von Susa, die in der DDR dreimal zur Abtreibung und dann zur Sterilisierung gedrängt wird, sowie von Una, die fast ihre ganze Familie im Bosnienkrieg verliert und es dennoch schafft zu fliehen. Was zunächst wie eine bruchstückhafte Sammlung flüchtiger Ereignisse scheint, verschiebt sich zu einer sich überlappenden Erzählung dreier Frauen, deren Kampf um körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung kein Ende zu nehmen scheint.
Dem Leid begegnen
Doch der Text bleibt nicht bei der blossen Erzählung der Schicksale stehen: Er fordert die Leser:innen dazu auf, den leidvollsten Momenten unvermittelt zu begegnen. In «David Pablo» wird Leid nicht als etwas Starres dargestellt, sondern als etwas, das sich bewegt – wie eine unaufhaltsame Strömung. Dieser Fluss gehört zum Menschsein: Die drei Frauen durchleben schwere Zeiten, aber aus ihrem Schmerz entsteht Neues; und manchmal, ganz leise, wächst daraus sogar Hoffnung. Als Una aus Sarajevo flieht, fliegen über ihrem Kopf keine Granaten, sondern nur noch Vogelschwärme durch den Himmel. Susa verabschiedet sich von ihrem alten Leben in Dresden, um in Berlin ein neues, trostvolleres als Künstlerin zu beginnen.
Besonders am Roman ist, dass Kluge die erzählten Schrecken nicht wie Museumsstücke ausstellt, sondern sie sprachlich derart verdichtet, dass beim Lesen ganz nahe an sie herangetreten werden kann. Unas Kriegstrauma wird in Wortwiederholungen und Satzbruckstücken aus ihren Gedanken ausgeformt: «Blut. Blut. Blut. Unser aller Blut. Mein Blut. Valons Blut. / Belagerung. Beschuss. / Hilfe. Flucht. / Ein Licht im Tunnel. Ein Visum in Zagreb. Ein Flug.»
Im KZ übernimmt Malena zeitweise das Erzählen. Sie fabuliert in ihrer aussichtslosen Zuversicht von Prinzessinnen und Prinzen, von Zuckerbäumen und Flüssen aus Honigmilch: «Malena, erzähl noch einmal von diesem Fluss. Ich habe sie gerochen, die Honigmilch. Ich habe sie geschmeckt.» Susas Wut, als sie trotz In-vitro-Befruchtung nicht schwanger wird und ihre Beziehung daran zerbricht, übersetzt sie selbst in Worte: «Aber jetzt verstehe ich: In mir ist schon lange vorher etwas zerbrochen. Noch vor dem Ganzen, vor all den Fragen, habe ich mir die Flügel zerknickt und mich verbogen, um in einer bestimmten Höhe zu fliegen.»
Im Gegensatz zur Struktur der Erzählung ist der Klang des Romans alles andere als bruchstückhaft. Die Sätze erscheinen so, als wären die Wörter Stück für Stück genaustens eingepasst worden. Daraus entsteht ein eigenwilliger Sprachduktus, der genau so viel gibt, wie der Text braucht, und der Lücken zulässt, wenn die Erzählung den Raum nötig hat. Zwischen die Episoden prasseln immer wieder Fragen in den Text: «Irgendwann fällt das Erkennen schwer. Aus welchen Teilen setzen wir uns zusammen? Wo gehören deine Augen hin, was verschiebt dir die Nase, die Ohren, die Hände, die Füsse, das Herz und den Magen?» Je länger die Lektüre andauert, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, die Erzählerin spreche zu einem selbst.
Rotwein und Rauch auf der Zunge
Was bleibt, ist die Hoffnung, die als stetige, leise Bewegung inmitten von Leid und Verlust in den Erzählungen weiterbesteht. Sie verbindet Malena, Susa und Una. Joanna Yulia Kluge gelingt es, diese Hoffnung spürbar werden zu lassen, ohne sie zu verklären: Sie bleibt zart, tastend und gerade darin glaubwürdig. Etwa dann, wenn Una als Jugendliche im sicheren Deutschland auf dem Dach ihres Plattenbaus rauchend Stefan Zweigs «Schachnovelle» liest, mit Rotwein aus dem Tetrapak, sich «wie ein richtiger Kulturmensch» fühlt und erstmals Freiheit schnuppert: «Die Sonne auf der Stirn, das Lesen, dieses süss-säuerliche, bittere Gemisch aus Rotwein und Rauch auf der Zunge: All das bescherte Una einen nie da gewesenen Rausch.»
«David Pablo» ist mehr als eine Sammlung schwerer Schicksale – es ist ein Roman über das Weitermachen, über das Menschsein in seiner zerbrechlichen Würde. Am Ende hallen die folgenden Sätze der Erzählerin nach, die das alles ziemlich auf den Punkt bringen: «Komisch, in all dem Leid verstehen wir es dennoch, unsere Herzen mit neuem Vogelgezwitscher zu speisen, und lassen sie nicht los: die Hoffnung – oder? Sie gleicht dem Blau über unseren Köpfen. Mal im Vordergrund, mal im Hintergrund – aber immer da. Blau ist meine Lieblingsfarbe.»
