Von oben herab: Ein trockener Rücken

Nr. 27 –

Stefan Gärtner über die Maut für Durchreisende

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«Papa, ich mag deine Witze nicht», hat sich der Jüngste neulich beschwert, und wenn Kinder, wie bekannt, Ironie erst lernen müssen, dann wachsen unsere gewissermassen zweisprachig auf. Den Diskriminierungswitz, der, wenn jemand vielleicht Graubrot nicht mag, lautet: «Das ist jetzt aber graubrotdiskriminierend!», machen wir Erwachsenen nur unter uns, denn hinter der ersten Uneigentlichkeit, die mit der Humorlosigkeit der Antidiskriminierungsstelle spielt, liegt eine zweite, die den falschen Humor von rechts auf die parodistische Schippe nimmt. Das dürfte selbst einen geschulten Fünfjährigen an seine Grenzen bringen.

Aus identitätspolitischer Sicht sollte ich solche Witze aber überhaupt nicht machen, weil ich nicht diskriminiert werde, ausser vielleicht als Fahrradfahrer in der Auto- und Zubringerstadt, in der ich lebe, was nicht zählt. Deswegen bin ich rechtschaffen froh, dass, wie die «SonntagsZeitung» meldet, neunzig Nationalräte «den Deutschen die Italien-Ferien vermiesen» wollen, nämlich mittels einer Transitmaut, die die ewigen Staus am Gotthard aus der Welt zu schaffen verspricht: «Die Gebühr soll so hoch sein, dass EU-Touristen die Schweiz umfahren oder das Flugzeug nehmen.» Fachleute jedoch «warnen: Das sei diskriminierend, eine Eskalation mit der EU absehbar».

Jetzt ist es also geschehen: Ich werde diskriminiert, falls das Sommerloch, der Klimakrise folgend, sich nicht bereits Ende Juni geöffnet hat, wenn die Empörungspresse aus «zu Spitzenzeiten zwischen 30 bis 60 Franken» Maut einen Anschlag auf die Menschenwürde zimmert. Denn so billig ist der Urlaub in Italien ja nun nicht, dass maximal 120 Euro für Hin- und Rückfahrt die Urlaubskasse sprengen müssten, und also ist es wie in der Umweltpolitik üblich: Damit die vielbeschworene Lenkungswirkung einsetzt, muss es immer viel teurer sein, als sich eins zu fordern traut.

Wobei sich freilich fragt, wer – ausser den Urner und Tessiner Gemeinden, die unter den touristischen Stauumfahrungen leiden – von dieser Lenkung profitiert, denn das kann der Rest der Welt kaum begrüssen, wenn noch mehr Leute die Ferienreise im Flugzeug antreten; wie die Maut ausserdem, wie jede Verbrauchssteuer, die Reichen begünstigt und also Jeff Bezos durch den staufreien Gotthardtunnel brausen kann, um sich in Venedig scheiden zu lassen, aus Sentimentalität und weil der Kreis sich ja schliesslich schliessen muss. Überlegungen, wie sie die neunzig Nationalräte gutheissen, enden zuverlässig in jenen Widersprüchen, die sich aus dem initialen ergeben, dass ein Bad gewünscht wird, der Rücken aber nicht nass werden soll: Das Zuviel an Tourismus ist das Problem, und lenkt man das Zuviel um, dann ist es anderswo zu viel.

Um das Internet nicht durch Ignoranz zu diskriminieren, schlage ich bei Wikipedia nach und erfahre, dass bis zur Eröffnung des Strassentunnels 1980 ein Autozug das Gotthardmassiv durchquert hat, und wieder einmal weist sich, dass es kaum einmal einen Fortschritt gibt, der nicht zugleich ein Rückschritt ist. Denn war der Autozug damals voll, war er eben voll, so wie man nicht von Calais nach Dover kommt, wenn die Fähren voll sind. Kann natürlich sehr gut sein, dass dann wieder geflogen wird, und vielleicht darf ich das dem Urner Mitte-Nationalrat Simon Stadler, der die Mautidee hatte, gar nicht übel nehmen, wenn er gedacht hat: Das Übertourismusproblem kann ich nicht lösen, aber mit einem einfachen Dreh die Autos aus den Dörfern kriegen, das kann ich. Und wenn die Autos dann durch österreichische Dörfer brummen, tuts mir leid, aber die Probleme der ganzen Welt kann ich nicht lösen.

Bleibt als einziger Gewinn ohne Schattenseite, dass ein lebenslang glücklich Undiskriminierter einmal merkt, wie das ist, wobei ein ernstlich Diskriminierter sagen wird: Alter, ich mag deine Witze nicht. Ob ich sie umfahren kann?

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.