Fanon heute: Die strukturelle Natur der Gewalt

Nr. 29 –

Vom antikolonialen Antifaschismus zur universellen Befreiung: Das Werk von Frantz Fanon bleibt politisch aktuell.

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Teil der Bildstrecke von Bruno Boudjelal
Teil der Bildstrecke von Bruno Boudjelal

Viele Jahre lang ist Frantz Fanon von Teilen der postkolonialen Theorie eher entradikalisiert gelesen worden – als Theoretiker von Repräsentationsfragen und Diskurs. Doch seit dem Hamas-Angriff auf Israel beherrscht sein Name plötzlich wieder politische Debatten. Antiimperialistische Linke in den USA haben versucht, mit Fanon die Aktionen der Hamas zu verteidigen, Teile des bürgerlichen Feuilletons, ihn als Antisemiten abzustempeln. Beide Interpretationen sind schlecht informiert: Fanon, der 1953 als Arzt nach Algerien ging und sich wenig später der antikolonialen Befreiungsbewegung FLN anschloss, hielt als Sozialist wenig von den konservativen und islamistischen Strömungen in der Unabhängigkeitsbewegung. Und seine Analyse des Kolonialrassismus stützt sich, wie man in «Schwarze Haut, weisse Masken» (1952) nachlesen kann, unter anderem auf eine Kritik des Antisemitismus.

Doch wenn Fanons Denken klar komplexer ist als zuletzt behauptet: Was sind dann die Aspekte seines Werks, die auch für die politische Gegenwart von Interesse sein könnten?

Auf Fanons Spuren

Der französische Fotograf Bruno Boudjelal hat sich 1993 aufgemacht, seine algerischen Wurzeln zu erkunden – eine verstörende Erfahrung, die ihn auf Fanons Spuren führte: von Martinique über Algerien und Tunesien bis nach Ghana. Die Suche geriet zum fortgesetzten «Prozess des Scheiterns», klagte Boudjelal in einem Interview: Nie habe er gefunden, was er erwartet habe. Beim Versuch etwa, die psychiatrische Klinik im algerischen Blida zu besuchen, sei ihm Fanons letzter noch lebender Patient begegnet. Doch der wollte nicht mit ihm sprechen. Er habe nur drei Fotos von ihm machen können, dann sei der Mann verschwunden.

Algerien, Fanon, die eigene Herkunft und Identität als letztlich unzugänglicher, nicht fassbarer Ort: Diese Erfahrung aus über zehn Jahren Spurensuche visualisierte Boudjelal 2013 in einer Serie von Bildern. Scheinbar flüchtige Aufnahmen, geisterhaft, beunruhigend. Und vielleicht gerade darin Fanon nah.

Soldat in de Gaulles Armee

Trotz seines theoretischen Werks war der 1925 in eine Schwarze Mittelschichtsfamilie geborene Fanon vor allem ein Praktiker der Befreiung. Mit siebzehn Jahren verliess er die vom Vichy-Regime kontrollierte Karibikinsel Martinique, um sich dem Kampf gegen Nazideutschland anzuschliessen. Als Soldat der «Freien Französischen Streitkräfte» erreichte der junge Antifaschist einige Zeit später Nordafrika, wurde dort aber schnell desillusioniert.

Auslöser des Meinungswandels waren die Erfahrungen in der vermeintlich «antifaschistischen» Armee von General Charles de Gaulle. Was liberale Kritiker:innen Fanon vorwerfen – er habe die Kolonialherrschaft in die Nähe des Faschismus gerückt und Letzteren damit verharmlost –, beruhte bei ihm auf sehr konkreten Beobachtungen: Die Schwarzen Soldaten wurden in den alliierten Truppen diskriminiert, auf den Schlachtfeldern verheizte man sie.

Für Fanon geht es hier nicht um Probleme der Repräsentation, sondern um die Erkenntnis, dass der Faschismus offenbar ganz anders entsteht als von bürgerlichen Theorien unterstellt. Ein biografisches Detail veranschaulicht das: Der alliierte General Raoul Salan, der Fanon 1945 wegen einer Kriegsverletzung auszeichnete, befürwortete wenige Jahre später als Oberkommandeur der französischen Kolonialtruppen erst in Indochina, dann in Algerien Folterungen und rassistische Zwangsinternierungen. Anfang der sechziger Jahre wurde Salan sogar Chef der rechtsextremen Geheimorganisation OAS, die die Unabhängigkeit Algeriens mit Bombenanschlägen zu verhindern suchte. Ein Nazigegner war führender Kopf des französischen Kolonialfaschismus.

Für Fanon und andere antikoloniale Denker ist der Faschismus in diesem Sinne eine Weiterentwicklung des Kolonialrassismus. In Anlehnung an den karibischen Dichter Aimé Césaire schrieb Fanon in einem Zeitungsartikel Ende der fünfziger Jahre: «Was ist der Faschismus hinsichtlich der individuellen und Menschenrechte anderes als ein Kolonialismus im Herzen der traditionellen Kolonialländer?»

In europäischen Kontexten wird häufig gefragt, welche Aussagekraft ein Faschismusbegriff besitzt, der den liberalen Normalzustand nicht recht von der faschistischen Ausnahme trennt. Doch wer den transatlantischen Sklav:innenhandel, die belgischen Kolonialverbrechen im Kongo oder den deutschen Genozid im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts betrachtet, wird einräumen müssen, dass industrielle Praktiken der Vernichtung und das Regieren durch Terror und Gewalt auch schon vor dem europäischen Faschismus unheilvolle Verbindungen eingegangen waren.

Fanon kam über den Antifaschismus zum antikolonialen Internationalismus. Umgekehrt könnte man aber auch formulieren: Ein Antifaschismus, der sich ausschliesslich an Nazis abarbeitet, kann den Faschismus nicht verhindern.

Aufbegehren der Unterdrückten

Bekannter als seine Faschismusanalyse sind Fanons Schriften zur revolutionären Gewalt. Denker:innen wie Hannah Arendt kritisierten diese als Gewaltapologie. Besonders umstritten ist jene Passage in «Die Verdammten dieser Erde» (1961), in der der damals erst 36-jährige, bereits schwer an Leukämie erkrankte Fanon der revolutionären Gewalt heilende Wirkung zuschreibt: «Der Kolonisierte heilt sich von der kolonialen Neurose, indem er den Kolonialherrn mit Waffengewalt davonjagt. […] Von weitem halten wir seinen Krieg für den Triumph der Barbarei. Aber er bewirkt durch sich selbst die fortschreitende Emanzipation des Kämpfers und vernichtet […] Schritt für Schritt die koloniale Finsternis.»

Wenn man weiss, wie viele Kämpfer:innen der Befreiungsbewegungen nach der Unabhängigkeit zu Staatseliten wurden, mag man über solche Aussagen den Kopf schütteln. Doch man darf auch nicht unterschlagen, dass «Die Verdammten dieser Erde» weniger als Legitimationsschrift revolutionärer Gewalt denn als sozialpsychologische Studie struktureller kolonialer Gewalt verfasst wurde. Extrem präzise beschreibt der Psychiater Fanon darin, wie die Kolonialherrschaft in das Bewusstsein der Unterdrückten einsickert und eine Gewalt erzeugt, die sie gegeneinander richten, woraus erst der bewaffnete Aufstand einen Ausweg aufzeigt.

Wenn sich von Fanon etwas für die Debatten der Gegenwart lernen lässt, dann ist es die Einsicht, dass die Gewalt immer schon vor dem Aufbegehren der Unterdrückten vorhanden ist und eine Kritik der Gewalt deshalb an den strukturellen Verhältnissen ansetzen muss. Als französische Linke die FLN wegen ihrer Bombenanschläge auf Zivilist:innen attackierten, erinnerte Fanon sie daran, dass sie – allen voran die Kommunistische Partei Frankreichs – die Gewalt bereits in jenem Moment befürwortet hätten, als sie den französischen Kolonialanspruch auf Algerien akzeptiert hatten. Zudem erfüllte Gewalt Fanon stets mit Abscheu, wie Simone de Beauvoir in ihrer Autobiografie erklärt.

Frantz Fanons Aussagen über die emanzipatorische Kraft der Gewalt mögen nicht zu den überzeugendsten Stellen seines Werks gehören, stehen aber auch in historischem Kontext. Als er 1960 die Bedeutung der Gewalt hervorhob, gingen einige Unabhängigkeitsbewegungen gerade neue, neokoloniale Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialmächten ein. Vor diesem Hintergrund betonte Fanon die Notwendigkeit des Bruchs: Erst durch den vollständigen Sieg über die Fremdherrschaft könnten sich Kolonisierte aus der Unterdrückung lösen und neue soziale Beziehungen möglich werden.

Radikaler Universalist

Das steht in engem Verhältnis zu einem dritten Aspekt in Fanons Werk: seinem Misstrauen gegenüber neuen Eliten. Sieht man sich die Lage des Globalen Südens heute an, muss man das Dekolonisierungsprojekt wohl als gescheitert bezeichnen: An die Stelle der Kolonialreiche sind Weltmarktbeziehungen getreten. Fanon ahnte bereits, dass die nationale Unabhängigkeit ungenügend sein könnte. Am dramatischsten zeigte sich das im Kongo. Der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, Patrice Lumumba, der wie Fanon auf eine kontinentale afrikanische Revolution gesetzt hatte, wurde auf Betreiben der USA 1961 ermordet – zu wichtig war dem Westen der Zugriff auf die Uranvorkommen des Landes. Auf Lumumba folgte Mobutu Sese Seko, der zwar die Bodenschätze nationalisierte, die Einnahmen jedoch für sich selbst und die eigene Gefolgschaft sicherte.

Weil Fanon solche Gefahren vorhersah, propagierte er eine Befreiungsperspektive jenseits der Nation. Als radikaler Universalist wollte er eine Politik, die mit der Kolonialherrschaft auch die Macht einheimischer Eliten brechen sollte. Das unabhängige Algerien, das ihm vorschwebte, sollte sozialistisch und plurinational sein. Obwohl die Pieds-noirs, die französischstämmigen Siedler:innen, die Kolonialherrschaft aktiv mitgetragen hatten, waren sie für Fanon Teil des zukünftigen Algerien. Die Vorstellung eines ethnisch oder religiös vereinheitlichten Landes war ihm ein Gräuel.

Der karibische Internationalist, der sich der afrikanischen Revolution verschrieben hatte, verstand den Globalen Süden als politischen Raum, in dem eine globale Befreiungsperspektive entstehen könnte. In den letzten Zeilen seines politischen Vermächtnisses heisst es: «Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.» Die nationale Unabhängigkeit vermochte der Herrschaft des Weltmarkts letztlich wenig entgegenzusetzen. Doch an Fanons Suche gilt es anzuknüpfen.

In Berlin findet am 22. und 23. Juli das internationale Symposium «Fanon heute – Kämpfe der Gegenwart und theoretische Perspektiven» statt, organisiert von Robin Celikates (FU Berlin), Vanessa E. Thompson (Queen’s University Kingston) und der Tageszeitung «Neues Deutschland». www.rosalux.de