Geschlechtsspezifische Gewalt: Statistiken, Fussfesseln und das Patriarchat
Bund, Kantone und Gemeinden legen dringliche Massnahmen gegen den Femizid fest – wobei der Begriff von den Behörden lange Zeit abgelehnt wurde. Über Verschiebungen im öffentlichen und im politischen Diskurs.

Achtzehn Femizide. Achtzehn Frauen und Mädchen waren es, die im ersten Halbjahr 2025 von ihren ehemaligen oder aktuellen Partnern, Vätern oder anderen Männern getötet wurden. Das vermeldete am 26. Juni das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) in einer Medienmitteilung. Am 5. Juli, nur rund eine Woche später, stieg die Zahl auf neunzehn. Im freiburgischen Givisiez wurde eine dreissigjährige Frau (zusammen mit ihrem Baby) getötet – mutmasslich erstochen vom Ehemann, der die Tat gestand. Die Zahl der Femizide, also der Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sei besorgniserregend, schreibt das EBG in seiner Mitteilung, in der es dringliche Massnahmen ankündigt. Tatsächlich deuten die Zahlen auf einen Anstieg hin: 2024 wurden innerhalb eines Jahres zwanzig, 2023 achtzehn Frauen ermordet.
Die Zahlen sind nicht etwa einer offiziellen Statistik entnommen, denn eine solche existiert in der Schweiz nicht. Es ist das zivilgesellschaftliche Rechercheprojekt «Stop Femizid», das sowohl versuchte wie auch vollendete Femizide zählt, indem es Polizeimeldungen und Medienberichte systematisch auswertet. Abgesehen von den Medien stützt sich auch das EBG in seiner Mitteilung auf die Zahlen von «Stop Femizid». Dass darin überhaupt der Begriff «Femizid» verwendet wird, ist bemerkenswert: 2020 schrieb der Bundesrat in einer Stellungnahme auf eine Interpellation hin noch: «Pläne zur Verwendung des Begriffs ‹Femizid› bestehen derzeit nicht.»
Beharrliche Grundlagenarbeit
Nicht nur der Bund, auch kantonale Behörden weigerten sich lange, den Begriff zu verwenden – mal mit der Begründung, er sei unscharf und juristisch nicht definiert, mal mit dem Verweis, er sei «ideologisch». Dass er heute zunehmend verwendet werde, etwa von Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider, hänge damit zusammen, dass er «eine wichtige Realität sichtbar» mache, so das EBG. Etabliert haben den Begriff in der Schweiz feministische Aktivist:innen wie etwa die «Ni una menos»-Kollektive, die damit auf die strukturellen Ursachen von Morden an Frauen hinweisen wollen. Ändert sich etwas, wenn nun auch Bundesrät:innen von Femizid sprechen?
«Der Begriff hat auf jeden Fall eine Karriere gemacht»», sagt Nadia Brügger. «Das ist aber kein Zufall, sondern unserer beharrlichen feministischen Grundlagenarbeit zu verdanken.» Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin ist eine der Gründerinnen von «Stop Femizid». Auch wenn in der Öffentlichkeit in Bezug auf Frauenmorde immer öfter von Femiziden statt etwa von «Familiendramen» die Rede ist: «Ein etablierter politischer Begriff ist es noch nicht», so Brügger. Zwar registriere sie eine Verschiebung im öffentlichen Diskurs und eine punktuell grössere Aufmerksamkeit für das Thema, es werde sich aber erst zeigen müssen, ob daraus auch eine strukturelle Veränderung hervorgehe. Für das Rechercheprojekt arbeitet Brügger aus Überzeugung – und ohne Bezahlung.
Daran, dass Private anstelle des Staates die Femizidzahlen erheben, könnte sich in Zukunft etwas ändern. Im März dieses Jahres nahm das Parlament ein Postulat der Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan an, das den Bundesrat beauftragt abzuklären, ob und wie Femizide in Zukunft statistisch erfasst werden können. Um Gewalt an Frauen erkennen und bekämpfen zu können, müsse diese definiert und benannt werden, begründet Arslan ihren Vorstoss. Dass dieser mit 120 zu 67 Stimmen im Nationalrat angenommen wurde, kann als Fortschritt gedeutet werden: 2021 wurde ein ähnlicher Antrag von SP-Nationalrätin Tamara Funiciello noch deutlich abgelehnt.
Ein Blick in die Ratsdebatte zum Postulat offenbart noch etwas anderes: In den Voten ging es nämlich nicht um Gewalt an Frauen, sondern primär um die Frage, inwiefern diese ein «Ausländerproblem» sei. Verantwortlich dafür ist – wenig überraschend – die SVP. «Frau Kollegin Arslan, können Sie uns erklären, inwiefern diese unbestrittenermassen schlimmen Taten mit der Migration zusammenhängen?», fragte der Zürcher Mauro Tuena, und sein Aargauer Parteikollege Alois Huber wollte wissen: «Wissen Sie, wie viele häusliche Gewalttaten in der Schweiz von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern verübt werden?»
Neu ist das Manöver nicht, schliesslich schafft es die SVP bei jedem Thema, einen Zusammenhang zu ihrem Kerngebiet herzustellen. Die Strategie, die «anderen» als Urheber von Gewalt zu betrachten und diese folglich als etwas der eigenen Gesellschaft Fremdes, wurde bereits in der Kolonialzeit angewendet. Doch aktuell lasse sich beobachten, wie die SVP besonders intensiv versuche, den Diskurs zu Gewalt an Frauen in ihrem Sinne zu beeinflussen, sagt Funiciello, die dafür auch eine Erklärung hat: «Sie wissen, dass sie hier nichts zu gewinnen haben. Und dass der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt weit über das linke Lager hinaus mobilisiert.» Darum, so Funiciello weiter, «geben sie auf diese Sache eine einzige Antwort – eine rassistische».
Verbreitete Vorurteile
Tatsächlich scheint die SVP-Forderung gerade Konjunktur zu haben: So scheiterte die Partei etwa vor zwei Wochen in der Rechtskommission des Nationalrats mit dem Anliegen, sämtliche Polizeikorps müssten grundsätzlich Staatsangehörigkeit von Täter:innen, Opfern und Verdächtigen nennen. Unterdessen versuchen Expert:innen in den Medien zu erklären, wieso in den vergangenen Jahren verhältnismässig viele Täter im Bereich häuslicher Gewalt keinen Schweizer Pass hatten. Faten Khazaei sieht in der Nennung von Staatszugehörigkeiten bei Statistiken zu häuslicher Gewalt keinen Nutzen: «Gewalt kommt in allen sozialen Schichten und überall auf der Welt vor», erklärt die Soziologin, die an der Schnittstelle von häuslicher Gewalt, kritischer Rassismusforschung und Migrationssoziologie arbeitet.
Anstatt sich auf die geschlechtsspezifische Dimension von Gewalt an Frauen zu konzentrieren, die sich in den Femizidzahlen sehr deutlich zeige, werde versucht, die Aufmerksamkeit auf die Migration zu verlagern. Das, obwohl zahlreiche Untersuchungen zeigten, dass Nationalität oder Religion keine Faktoren seien, die Gewalt gegen Frauen erklärten. Indem man eine Korrelation zwischen irgendeiner Art von Verbrechen und der Nationalität von Menschen herstelle, verleihe man letzterer Kategorie eine willkürliche Bedeutung.
Die Soziologin hat aber noch ein anderes, viel grundsätzlicheres Problem mit den Statistiken, denn: «Diese spiegeln letztlich nicht die Realität der häuslichen Gewalt wider, sondern jene der Polizeiarbeit.» Khazaei weiss, wovon sie spricht: Für ihre Forschung hat sie mehrere Monate lang ein Westschweizer Polizeikorps bei Einsätzen begleitet, bei denen häusliche Gewalt vermutet wurde. Und sie beobachtete dabei: In ähnlich gelagerten Fällen tendierten die Beamt:innen dazu, Fälle seltener als häusliche Gewalt einzustufen, wenn die Beteiligten weiss und Schweizer:innen waren.
«In den Köpfen der Polizist:innen sind weisse Frauen und Männer eher nicht in einen Fall von häuslicher Gewalt verwickelt, da diese in der Schweiz keine ‹kulturelle Gegebenheit›, sondern ‹importiert› ist.» Anstatt sich nur auf Kriminalstatistiken zu verlassen, sollten in der Schweiz regelmässig repräsentative Umfragen zu häuslicher Gewalt durchgeführt werden, findet Khazaei. Schliesslich seien Femizide «die Spitze des Eisbergs». «Morde an Frauen stehen auf der letzten Stufe der sogenannten Gewaltpyramide», schreiben dazu Natalia Widla und Miriam Suter in ihrem Buch «Niemals aus Liebe» über Männergewalt an Frauen. Und betonen, dass patriarchale, sexistische und frauenverachtende Einstellungen ein Fundament für diese Gewalt lieferten.
Dass man mit Femizidstatistiken grundsätzlich vorsichtig umgehen sollte, findet auch Tamara Funiciello. Viele zeigten sich schockiert ob der Zahl der Tötungen im laufenden Jahr. «Aber was, wenn es 2026 in der Jahresmitte ‹nur› sechzehn Femizide sind? Ist das dann etwa ein Erfolg?» Sie sagt: «Jeder Femizid ist ein Versagen des Staates und der Gesellschaft, Frauen zu schützen – egal ob es eine Frau oder hundert Frauen sind.» Dass Bund, Kantone und Gemeinden nun Massnahmen ergreifen wollen, sieht Funiciello positiv. Konkret sollen Fachpersonen durch Aus- und Weiterbildungen stärker in Gewaltprävention geschult, Femizide systematisch und interinstitutionell analysiert und regionale Lösungen zur Schliessung von Lücken in Schutz- und Notunterkünften entwickelt werden.
Zu Letzteren gehören die Frauenhäuser. Blertë Berisha von der Dachorganisation der Schweizer Frauenhäuser schreibt auf Anfrage, man begrüsse die angekündigten Massnahmen, «doch sie reichen nicht aus». So sei es etwa nötig, die Zahl der verfügbaren Schutzplätze deutlich zu erhöhen und die Arbeit der Frauenhäuser finanziell besser zu unterstützen. Wie alle Expert:innen im Bereich häuslicher Gewalt betont Berisha die zentrale Bedeutung der Prävention, um Gewalt gar nicht erst entstehen zu lassen. So brauche es ein «koordiniertes und umfassendes Vorgehen in Form einer gesamtgesellschaftlichen Primärpräventionsstrategie, die bereits im frühkindlichen Bereich ansetzt».
Im November 2025 soll eine mehrjährige nationale Präventionskampagne starten. 2023 stimmte das Parlament einem Antrag zu, der das Budget des EBG dafür um jährlich 1,5 Millionen Franken erhöht. «Ein lächerlicher Betrag. Lächerlich!», empört sich Tamara Funiciello. «Der Unterhalt von Armeepferden kostet uns mehr als diese Kampagne.» Natürlich seien immer alle gegen geschlechtsspezifische Gewalt, so die Politikerin. «Aber wenn es darum geht, die nötigen Mittel lockerzumachen, stehen wir jeweils relativ alleine da.»
Spanien als Vorbild?
Auch Justizminister Beat Jans forderte jüngst in einem Interview mit den CH-Media-Zeitungen rasche und härtere Massnahmen im Kampf gegen Femizide. Anfang Juli reiste er nach Spanien, wo seit über zwanzig Jahren ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Kraft ist und die Zahl der Femizide im Verhältnis zur Bevölkerung einiges tiefer liegt als in der Schweiz. Danach forderte der Bundesrat die Einführung eines elektronischen Monitorings mit Fussfesseln für Gewalttäter, wie es in Spanien existiert. Dabei tragen bekannte Täter und Opfer GPS-Sender, die einen Alarm an Polizei und Opfer aussenden, wenn ein definierter Abstand nicht eingehalten wird. Laut den spanischen Behörden ein durchschlagender Erfolg: Seit der Einführung des Systems verübten keine Träger von Fussfesseln Femizide.
Ist das Überwachungssystem eine Art verstärkte Repression? Und wie geht man als Linke damit um, staatlichen Institutionen mehr Macht zu geben? Man müsse differenzieren, sagt Funiciello. Wenn es etwa um Fragen nach dem Strafmass gehe, das auch Rechte in diesem Bereich gern erhöhen wollten, sei die Bandbreite innerhalb der Linken gross. «Es ist auch gut, dass wir da Diskussionen führen.» Gesetzliche Verschärfungen wie etwa die Anerkennung von Stalking als Straftatbestand, für die sie selbst sich eingesetzt hat, begründet sie mit dem Nachholbedarf bei der körperlichen Selbstbestimmung.
Beim elektronischen Monitoring zeige sich nochmals eine andere Situation: Richter:innen würden hier zwischen der Anordnung einer Fussfessel und dem Gefängnis entscheiden, sagt Funiciello. Das Monitoring sei aber weder ein Allheilmittel noch die einzige Massnahme, die Spanien anwende. Ein gesetzlicher Rahmen, die Bereitstellung von Mitteln, eine umfassende Gefahrenanalyse, Prävention, die bereits in der Schule ansetze: «Das muss man alles mitdenken.» Letztlich sei klar: «Geschlechtsspezifische Gewalt wird erst aufhören, wenn wir eine gleichgestellte Gesellschaft haben.»