Asylpolitik: Rückschlag für die europäische Abschiebe­koalition

Nr. 32 –

Der Europäische Gerichtshof lehnt Giorgia Melonis Aufnahmelager für Geflüchtete in Albanien ab. Ein kleiner Mutmacher in finsteren Zeiten.

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Eingang des Lager im nordalbanischen Dorf Gjadër
Nicht die Asylsuchenden sind illegal, sondern der Plan der italienischen Ministerpräsidentin: ­Das Lager im nordalbanischen Dorf Gjadër. Foto: Florion Goga, Reuters

Geflüchtete in Lager ausserhalb der Europäischen Union zu sperren, statt ihnen in der EU ein Asylverfahren zu gewähren, verstösst – zumindest unter Umständen und bis auf Weiteres – gegen geltendes Recht. Das befand letzte Woche der Europäische Gerichtshof (EuGH). Und das hat Auswirkungen auf das von der italienischen Rechtsregierung unter Giorgia Meloni betriebene «Albanienprojekt» (siehe WOZ Nr. 43/24). Es sieht vor, volljährige männliche Asylsuchende in einem eigens dafür errichteten Aufnahmelager im albanischen Dorf Gjadër unterzubringen, vorausgesetzt, sie werden von den Behörden aufgegriffen, bevor sie italienischen Boden betreten – und kommen aus «sicheren Herkunftsländern», die von der italienischen Regierung selbst definiert werden. Letzteres aber, so das Luxemburger Gericht, ist nur unter bestimmten Bedingungen zulässig. Sicher sei ein Land nur, wenn dort alle gesellschaftlichen Gruppen vor Verfolgung geschützt seien. Ausserdem müsse die Regierung den Gerichten und den Rechtsbeiständen von Asylsuchenden offenlegen, auf Grundlage welcher Fakten sie zu ihrer Einschätzung gekommen sei.

Ähnlich hatte dasselbe Gericht schon am 4. Oktober 2024 geurteilt: Schutz vor Verfolgung müsse in allen Teilen des Staatsgebiets gewährleistet sein, bevor ein Land als sicher eingestuft werden könne. Auf Grundlage dieses Urteils entschied ein Gericht in Rom kurz darauf den Fall von zwölf Geflüchteten aus Ägypten und Bangladesch, die in das gerade eröffnete Lager in Gjadër verbracht worden waren: Diese hätten das Recht auf ein Asylverfahren in Italien. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung wurden sie per Schiff in ein Lager in der apulischen Hauptstadt Bari gebracht.

Weil sich auch andere italienische Gerichte an europäisches Recht hielten, blieb das Lager in Gjadër leer. Das dort beschäftigungslose italienische Aufsichtspersonal wurde abgezogen. Nun sollen abgewiesene Asylbewerber aus Italien nach Gjadër geschafft werden und dort auf ihre Abschiebung in ein aufnahmewilliges Land warten. Dieses Verfahren widerspricht zwar dem ursprünglichen Konzept; dennoch hält Meloni an ihrem Vorhaben fest. «Es wird funktionieren», wiederholt sie bei jeder Gelegenheit – schliesslich ist auch ihr eigenes Prestige damit verbunden. In ihrem Sommerurlaub 2023 hatte sie das Projekt zusammen mit Albaniens Premier Edi Rama auf den Weg gebracht. Der verzichtete auf einen Teil territorialer Souveränität – im Lager in Gjadër gilt italienisches Recht, durchgesetzt durch italienische Staatsbeamt:innen. Dafür erhielt Albanien Geld und verschaffte sich Pluspunkte im EU-Beitrittsverfahren.

Verschärftes Haftregime

Dass italienische und europäische Gerichte sich erdreisten, Giorgia Melonis illegale Machenschaften zu behindern, versetzt die in Rom regierende Rechte immer wieder in Rage. So auch jetzt anlässlich des Urteils vom 1. August. «Wieder einmal beansprucht die Justiz, diesmal die europäische, Kompetenzen, die ihr nicht zustehen», tobte die Ministerpräsidentin. Vizepremier Matteo Salvini (Lega) sah im Urteil «eine erneute Ohrfeige für die nationale Souveränität unseres Landes». Vergleichsweise zurückhaltend äusserte sich der zweite Vizepremier, Aussenminister Antonio Tajani (Forza Italia): «Das Urteil überzeugt mich nicht, aber es wird nur sehr kurzfristig Wirkung haben, weil es mit Inkrafttreten der neuen EU-Einwanderungsregeln nicht mehr gelten wird.»

Damit wird er wohl leider recht behalten. Denn ab dem 12. Juni 2026 soll in der EU der sogenannte Asylkompromiss gelten: das drastisch verschärfte Gemeinsame Europäische Asylsystem (Geas). Dazu gehören beschleunigte Verfahren an den EU-Aussengrenzen mit «Asylzentren» zur Feststellung der Identität der Schutzsuchenden. Wer bei diesem Screening wegen «geringer Aufnahmechancen» durchfällt, kann abgewiesen werden; auch Familien mit Kindern können in Auffanglagern unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. Abgeschoben wird nicht nur in (angeblich) sichere Herkunftsländer, sondern auch in ebensolche «Drittstaaten» – Länder, die auf der Flucht durchquert wurden, sofern die Geflüchteten zu diesen eine wie auch immer geartete «Verbindung» haben.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht in diesem Massnahmenpaket den «historischen Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa». Durch eingeschränkten Rechtsschutz werde unter anderem die Inhaftierung Asylsuchender erleichtert – womit die Auffanglager an den EU-Aussengrenzen zu Haftlagern werden könnten. Beschlossen wurde das alles im April 2024 vom Europäischen Parlament und einen Monat später von den Regierungen der 27 EU-Mitgliedstaaten. Damals regierte in Deutschland noch die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) begrüsste den «Kompromiss», und seine grüne Aussenministerin Annalena Baerbock freute sich auf X: «Mit dem Ja zur Reform im Europaparlament beweist die EU in schwierigen Zeiten Handlungsfähigkeit.»

Wer in naher Zukunft innerhalb der EU die meiste «Handlungsfähigkeit» beweisen wird, ist noch offen. Denn nicht nur die Rechten wollen mehr, auch die bürgerliche «Mitte» sieht Möglichkeiten, die Entrechtung Geflüchteter noch weiter voranzutreiben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) bekundete schon früh ihr besonderes «Interesse» an Melonis Albanienprojekt. Und ihr Parteifreund Friedrich Merz sprach bei seinem Antrittsbesuch als Bundeskanzler in Rom von Italiens «guten Initiativen» in der Migrationspolitik, «die wir auch aus Deutschland unterstützen». Neuerdings kursieren in der EU-Kommission Überlegungen, zumindest Teile der Geas-Reform früher als geplant in Kraft zu setzen.

Hetze gegen «rote Roben»

Auch wenn also europaweit aus Melonis Sicht vieles in die richtige Richtung geht, dürfte ihre Empörung über die «politisch motivierte Einmischung» des Luxemburger Gerichts nicht gespielt sein. Schliesslich geht es auch um die Führungsrolle in der extrabreiten europäischen Abschiebekoalition. Innenpolitisch soll nicht nur permanentes Selbstlob zu Prestige und Wahlerfolg verhelfen, sondern auch die Stilisierung als Opfer von bösartigen Machenschaften mächtiger Feinde, die sie selbst, ihre Regierung und die «ruhmreiche italienische Nation» nach Kräften behindern würden. Zu diesen Feinden zählen im rechten Narrativ seit Silvio Berlusconis Regierungsantritt 1994 nicht zuletzt die «roten Roben»: Richter:innen, die ohne Angst vor den Mächtigen Recht sprechen.

Das werden sie – hoffentlich – auch nach Inkrafttreten der Geas-«Reform» tun und damit, wenn auch nur in Einzelfällen, deren schlimmste Folgen abmildern. Viel mehr gibt das Luxemburger Urteil vom 1. August nicht her. Ein kleiner Mutmacher in finsteren Zeiten ist es dennoch – nicht nur für unangepasste Jurist:innen, sondern auch für die vielen, die in Italien und anderswo ihren Protest gegen die mörderische europäische Abschiebepolitik auf die Strasse tragen.