Ein Traum der Welt: Liegen statt kriechen
Annette Hug liest ein utopisches Manifest

Das Manifest, auf das ich schon lange gehofft habe, ist anonym verfasst. «Printed in Canton» steht auf der Innenklappe des Einbands, auf der Aussenseite prangt ein dreifarbiger Holzschnitt. Er zeigt einen Abwehrkampf von lose verbundenen Menschen gegen eine brennende Flutwelle. Im Vordergrund liegt einer, in eine Decke gehüllt, und schaut zu, wie sich andere den Wogen entgegenstellen. Einer spielt der Gefahr zum Trotz Gitarre, und hält da jemand eine Standarte in die Höhe?
Das «Tangpingistische Manifest» wurde 2024 in der Stadt produziert, die auch Guangzhou heisst. Der chinesische Text tauchte erstmals 2021 auf, ich lese die englische Übersetzung in einer viersprachigen Ausgabe, die neben dem Original ausserdem Japanisch und Koreanisch enthält. Der Begriff «tang ping» (躺 平) ist mir schon vor einigen Jahren untergekommen. Man könnte ihn im schweizerdeutschen Sprachgebrauch der 1980er Jahre als «Hänger» übersetzen und für den heutigen Gebrauch gendern. «Aussteiger:innen» klingt zu aktiv, denn «tang ping» heisst wörtlich «sich hinlegen». In China ist das ein soziales Phänomen: Junge Leute machen nicht mehr mit. Männer strengen sich nicht an, genug zu verdienen, um eine Hypothek aufzunehmen und dank Eigenheim heiratsfähig zu werden. Frauen bleiben lieber zu Hause, als ihre teure Ausbildung zu Geld zu machen. Im Extremfall heisst «tang ping»: Jemand mietet eine billige Kammer, legt sich dort ins Bett, bestellt online Essen und steht nicht mehr auf.
Wenn die Ferien zu Ende gehen, ein höllisch strenges Quartal ansteht und die Nachrichten noch apokalyptischer werden, ist das Manifest des Tangpingismus eine Verführung zur Hoffnung. Die Hänger:innen sollen nicht allein bleiben. Das Wort «organisieren» kommt aber nicht vor, würde wohl zu anstrengend klingen. Die Autor:innen sprechen von «Feiern, an denen sich alle erholen», von «Zufluchtsorten».
Wenn sie das englische Wort «barrel» verwenden, dann sprechen sie nicht von Rohöl, sondern vom griechischen Philosophen Diogenes. Als Zeichen einer Armut, die Ausdruck von Weisheit war, soll er in einem leeren Fass gewohnt haben. Lebenszeit dürfe nicht mehr verbrannt werden wie Öl, um die Welt zu beschleunigen. Jetzt sei der Zeitpunkt, an dem eine Form von Zauberei versage und sich eine andere Form neu belebe. Die Chines:innen seien lange genug «vorbildliche Produktionsinstrumente» gewesen. Aktive Tangpingist:innen rufen zur Verweigerung auf, zum Austritt aus dem Wettbewerb in der «Sozialfabrik». Sie stellen sich Allianzen vor mit Frauen, die sich weigern zu heiraten und Kinder zu gebären, mit Bauern und Bäuerinnen, die ihr Land nicht kaputtwirtschaften, mit Arbeiter:innen, die keinen Mehrwert mehr produzieren – in loser Erinnerung an die Pariser Kommune, entflohene Nicht-mehr-Versklavte in den amerikanischen Südstaaten, autonome Zapatist:innen im mexikanischen Chiapas, Berliner Hausbesetzungen und Frauenkooperativen im kurdischen Teil Syriens.
Das Manifest ist sehr kurz und geht nicht ins Detail. Ich stelle mir vor, dass die Energie für weltweite Bündnisse aus den Feiern stammt, zu denen sich Hänger:innen treffen, aus einer «Ökonomie von Gabe und Gegengabe». Wobei sich hier das deutsche Wort für «Wirtschaft» aufdrängt, um den Neubeginn von Handel und Tausch in Beizen deutlich zu machen.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich, sie muss die Arbeitsverweigerung auf später verschieben und liefert weiterhin (fast) pünktlich.