Stausee im Gornerli: Geht das Tal erneut verloren?

Nr. 33 –

Beim Gornergletscher oberhalb von Zermatt soll ein neuer Stausee für die Stromproduktion entstehen. Doch das Projekt ist umstritten, nationale Umweltverbände und lokale Vereinigungen suchen nach Alternativen.

Diesen Artikel hören (12:02)
-15
+15
-15
/
+15
Gletschervorfeld mit der Gornera
Im Tal, wo das Eis schwindet, siedeln sich bereits die ersten Pflanzen an: Das Gletschervorfeld mit der Gornera würde im geplanten See verschwinden. Foto: Stiftung Landschaftsschutz

Das ist es also – das verlorene Tal. Hoch oben im Monte-Rosa-Massiv wölben sich die Eismassen, falten, brechen auf, geben den Blick frei auf klares, blaues Eis. Unten im Tal erstreckt sich über fünf Kilometer die Zunge des Gornergletschers mit seinen Spalten und Geröllfeldern, dazwischen schimmern einzelne kleine Seen türkisblau in der Mittagssonne.

Tourist:innen aus aller Welt staunen und knipsen. Auch die zwanzig Umweltschützer:innen und weitere Interessierte, die sich an diesem Julitag bei der Zermatter Bergstation Rotenboden auf Einladung der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz für eine Exkursion ins sogenannte Gornerli getroffen haben, lassen ihre Blicke bewundernd und leicht besorgt über das mächtige Eis schweifen. Nichts deutet darauf hin, dass beim zweitgrössten Gletscher des Alpenraums eines der umstrittensten Wasserkraftprojekte des Landes geplant ist: eine 85 Meter hohe und etwa 245 Meter lange Staumauer, die einen Grossteil des Gletschers fluten würde. Stattdessen liegt das Tal in einsamer Wildnis zwischen den touristischen Hochburgen Zermatts, dem Gornergrat und dem Matterhorn Ski Paradise. Nur Skitourengänger und Bergsteigerinnen verirren sich in diese Gegend.

Das war nicht immer so. «Vor tausend Jahren hatte sich der Gletscher weit ins Gebirge zurückgezogen», erzählt der Zermatter Bergführer Benedikt Perren, der die Exkursion leitet. Über die nächsten Jahrhunderte entstand im Gornerli ein kleines Paradies: Viehweiden, Obstgärten und Häuser, sogar ein kleiner Wald wuchs im Tal. Doch während der Kleinen Eiszeit kam der Gletscher immer wieder zurück, zuletzt im 19. Jahrhundert. Die Zermatter:innen mussten ihre Gärten und Weiden dem ewigen Eis überlassen. Von da an wurde das Gornerli im Volksmund das «verlorene Tal» genannt. Wie in vielen anderen Alpengegenden versuchte man mit Gebeten und Bannsprüchen, den Gletscher wieder zum Schwinden zu bringen. «Das hat geklappt», sagt Perren lakonisch und lacht.

Trauriges Grau, unbelebtes Geröll

Das Schmelzen des Gornergletschers hat sich in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigt. «Brutal», kommentiert Perren, der die Auswirkungen des Klimawandels in vierzig Jahren als Bergführer aus der Nähe miterlebt hat. Die Folgen sind im Gornerli für alle sichtbar. Wo das Eis geschmolzen ist, hinterlässt es trauriges Grau, noch unbelebtes Geröll. Der Grenzgletscher und der kleinere, namensgebende Gornergletscher sind seit 2019 nicht mehr miteinander verbunden. Perren rechnet damit, dass noch diesen Sommer erstmals ein Teil des zukünftigen Gletschersees zu sehen sein wird.

Doch wenn es nach Bund, Kanton und dem Stromkonzern Alpiq mit seiner Tochtergesellschaft Grande Dixence SA geht, soll hier nicht nur ein natürlicher Gletschersee, sondern ein gigantischer Stausee entstehen, der über Stollen mit schon bestehenden Kraftwerken verbunden würde. Das Gornerli ist eines der sechzehn Wasserkraftprojekte von nationalem Interesse, die 2021 im Rahmen eines runden Tischs zwischen Bund, Kantonen, Umweltverbänden und Kraftwerksbetreibern ausgehandelt wurden – und die die Schweizer Stimmbevölkerung im Rahmen des Stromgesetzes letzten Sommer mit siebzig Prozent angenommen hat.

Einige Umweltorganisationen hatten sich von Anfang an stark gegen das Projekt ausgesprochen. «Der Gornergletscher ist eines der letzten unberührten Eismassive im Alpenraum und landschaftlich wie ökologisch unheimlich wertvoll», erklärt Franziska Grossenbacher, Kogeschäftsleiterin der Stiftung Landschaftsschutz, in einer Pause am Riffelsee. Das Gornerli ist Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung. Doch die Realisierung der sechzehn Wasserkraftprojekte des runden Tischs geht anderen Interessen vor. Weil sich damit die Ausgangslage geändert hat, ist die Stiftung der Dialoggruppe Gornerli beigetreten. Nun gehe es darum, zu schauen, so Grossenbacher, «wie ein solches Projekt möglichst schonend und ökologisch umgesetzt werden könnte, und Alternativen zum aktuellen Maximalprojekt der Grande Dixence zu prüfen». Deshalb hat die Stiftung zur Exkursion eingeladen.

Mit von der Partie ist auch Etienne Dufey, der technische Projektleiter der Grande Dixence SA. «Bereits 1948», so Dufey, «hat die Grande Dixence in Erwägung gezogen, unter der auslaufenden Zunge des Gornergletschers eine Wassersammelstelle einzurichten.» Das Gletschereis war damals aber viel dicker als angenommen – ein Teil des Wassers aus der Gornera wird seither über die Pumpstation Z’Mutt in den Lac des Dix geleitet. Laut Dufey verfügen die derzeitigen Anlagen jedoch nicht über ausreichend Kapazitäten, um die gesamten Zuflüsse zu fassen.

Der neue Gornerlistausee soll bis zu 150 Millionen Kubikmeter Wasser fassen können und mit dem produzierten Winterstrom einen wichtigen Beitrag zur Energiewende und zur Stromsicherheit leisten. Langfristig sollen maximal 650 Millionen Kilowattstunden Winterstrom produziert werden. Das entspricht dem Verbrauch von 140 000 Schweizer Haushalten. «Dies», so Dufey, «wird aber erst der Fall sein, wenn sich die Gletscherzunge komplett zurückgezogen hat – also erst in zwanzig bis vierzig Jahren.» Bis dahin kann nur ein Teil des Stauvolumens genutzt werden.

Gedanken an Blatten

Das Rauschen des Wassers ist im «verlorenen Tal» allgegenwärtig. In grossen Sturzbächen ergiesst sich das Schmelzwasser von den Seitengletschern Schwärze, Klein Matterhorn und Theodul ins Tal. «Ich persönlich glaube, dass die Bewirtschaftung des Wassers die Herausforderung der Zukunft wird», betont denn auch die Zermatter Gemeindepräsidentin Romy Biner-Hauser, die ebenfalls mit auf die Exkursion gekommen ist. Für die Gemeinde sei von Anfang an wichtig gewesen, mit dem Stausee einen Mehrzweckspeicher zu erhalten: Dieser soll nicht nur Energie produzieren, sondern Zermatt sowie das Vispertal auch vor einem Jahrhunderthochwasser schützen können und der Trink- und Brauchwasserversorgung dienen.

Auch für Bergführer Perren ist der Hochwasserschutz einer der zentralen Aspekte bei der künftigen Nutzung des Gornertals: «Aktuell müssen wir uns in Zermatt bei jeder Gewitterzelle vor einer Flut fürchten.» Das Projekt Gornerli ist ihm aber eine Nummer zu gross. Nach der Urversammlung am 11. Februar, an der Gemeinde und Grande Dixence SA das Projekt vorgestellt hatten, gründete er deshalb zusammen mit anderen Zermatter:innen die IG Zukunft Gornerli, die sich für Alternativen zum Grossprojekt einsetzt.

Hundert Meter talauswärts, auf einem Felsvorsprung wie ein Adlerhorst, zeigt der Bergführer, was damit gemeint sein könnte. Weit unten im Tal sind die letzten Ausläufer des Gornergletschers zu sehen, kaum erkennbar unter dem grauen Schutt. Die Gornera mäandert trübe durchs Geröllbett und erreicht schliesslich den schmalen Felsdurchbruch, wo die Mauer gebaut werden soll. Plötzlich ein Grollen – auf der gegenüberliegenden Bergseite bricht ein Stück Eis ab und rutscht ins Tal.

«Der Stausee würde von hier bis zur Monte-Rosa-Hütte reichen», sagt Perren. «Seine Fläche wäre siebzig Prozent grösser als die des natürlichen Gletschersees.» Das erschwert nicht nur den Zugang für Skitouren- und Berggänger:innen. In einer Gegend, die aufgrund der steilen Flanken mit Hängegletschern und des auftauenden Permafrosts als höchst instabil gilt, ist das auch eine potenzielle Gefahr für das ganze Tal. Felsabbrüche oder Eislawinen könnten in den See stürzen – und schlimmstenfalls eine Flutwelle auslösen, die Zermatt trifft. «Es gibt eine Zeit vor und nach Blatten», sagt Perren. «Was früher unmöglich erschien, müssen wir heute als realistisch betrachten.»

Ein Alternativvorschlag der IG Zukunft Gornerli sieht deshalb einen deutlich kleineren Stausee vor. Dazu würden zwei Naturdämme gebaut, ein erster zur Stauung des Wassers, ein zweiter, um bei Hochwassergefahr rund 2,5 Millionen Kubikmeter Wasser zurückhalten zu können. Die Dämme wären acht bis zehn Meter hoch und etwa fünfzig Meter lang, was auch mit einer viel kleineren Baustellenbelastung Zermatts einherginge. Das Alternativprojekt würde nach Perren etwa sechzig Prozent der Energie des Maximalprojekts produzieren und dabei einen kleineren Teil des Gletschers fluten.

Trotzdem wäre es immer noch ein Stausee, wie anwesende Vertreter:innen der schweizerischen Gewässerschutzorganisation Aqua Viva kritisieren: «Ein Stausee ist kein See, sondern eine technische Infrastruktur.» Auch wenn es auf den ersten Blick nur nach viel Geröll und Stein aussieht: Wo sich Gletscher zurückziehen, entstehen ökologisch wertvolle Gletschervorfelder. Auch im vordersten Teil des Gornerli ist diese Entwicklung zu sehen: In das Grau, Braun und Beige des Schutts schleicht sich an einigen Stellen bereits ein schwaches Grün – Zeichen der ersten Pflanzenpioniere, die das verlorene Tal zurückerobern. Und am Talausgang besiedeln junge Arven die Hänge. Die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission hat in ihrem Ende Juli publizierten Gutachten zum Gornerli deshalb auch festgehalten, dass ein solches Bauprojekt das Schutzgebiet stark beeinträchtigen würde.

Was sagt man im Dorf?

Voraussichtlich im Frühjahr 2026 wird die Zermatter Bevölkerung über die Zusatzkonzession Gornerli abstimmen und damit über das konkrete Projekt. Bis dahin möchte die IG Zukunft Gornerli ihre Variante ausarbeiten, um sie in der Abstimmung jener der Grande Dixence gegenüberzustellen. Auch die Stiftung Landschaftsschutz setzt sich innerhalb der Dialoggruppe für eine Prüfung von Varianten ein. Derweil haben die Grande Dixence und die Gemeinde verschiedene Studien in Auftrag gegeben, um das Projekt zu konkretisieren und das Risiko von Naturgefahren genauer zu kalkulieren. Noch ist also alles offen. Wie aber steht es um die Gemütslage im Dorf mit 6000 Einwohner:innen?

Persönlich sei er sehr enttäuscht, erzählt Marc Perren. Der 24-jährige Neffe von Benedikt Perren macht zurzeit ebenfalls die Ausbildung zum Bergführer. «So wurde uns das Projekt am Anfang vorgestellt», sagt er, zückt sein Handy und zeigt eine Visualisierung, die ganz zu Beginn von der Grande Dixence SA erstellt worden war – und hinter der diese mittlerweile nicht mehr steht. Darauf zu sehen: eine niedrige Staumauer, dahinter ein kleiner gestauter See, der gerade so bis an den Rand des bestehenden Gletschers reicht.

«Ich war begeistert! So ein kleiner Eingriff und damit 650 Gigawatt Strom!», erzählt Marc Perren. Aber je länger, desto klarer sei ihm geworden, dass es sich beileibe nicht um einen kleinen Eingriff handle. Der junge Bergführer ist ein Beispiel dafür, wie sich die Gemütslage im Dorf in den nächsten Monaten ändern könnte. «Momentan sind die Meinungen noch gespalten», sagt er auf dem Weg zur Bergstation Riffelberg, dem Endpunkt der Exkursion, «aber ich habe das Gefühl, die Stimmung kippt langsam.» Klar ist: Zermatt wird sein verlorenes Tal zurückgewinnen. Die Frage ist nur, in welcher Form.