Grimselstrom: Die Staumauer der Vernunft

Nr. 31 –

Die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) wollen den Grimselsee höher stauen. Der hartnäckige Widerstand dagegen bleibt.

Gianni Biasiutti ist ein höflicher, etwas förmlicher Mensch. Dem Direktor der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) geht der Ruf voraus, ein gewiefter Kommunikator zu sein, ein schlauer Fuchs. Er spricht ruhig und überlegt, bringt seine Argumente präzise vor. Vor einigen Jahren kam der Elektroingenieur, der früher für die Bernische Kraftwerke AG (BKW) gearbeitet hatte, nach Innertkirchen im Oberhasli. «Ich kam mit der festen Absicht, den Streit um den Ausbau der Wasserkraft an der Grimsel zu beenden», sagt Biasiutti.

Nun sitzt er in seinem Büro in der KWO-Zentrale direkt an der Grimselstrasse und wirkt etwas ratlos. Die nationalen Umweltverbände, aber auch der lokale Grimselverein lehnen die Erhöhung der Staumauer am Grimselsee um 23 Meter auf 137 Meter ab. Der Dialog ist gescheitert. Was ist schief gelaufen, Herr Biasiutti? «Die Umweltverbände können Opposition machen, aber sie haben keine Erfahrung im Schliessen von Kompromissen. Sie sind nicht fähig zur Kooperation.»

Entbrannt war der Streit am Grossprojekt Grimsel West, das Biasiuttis Vorgänger Franz Benelli in den achtziger Jahren lanciert hatte. Es sah vor, eine 200 Meter hohe Mauer durch den bestehenden Grimselsee zu bauen und eine einzigartige Moorlandschaft und den Unteraargletscher zu überfluten. Der Irrsinn hätte drei Milliarden Franken gekostet.

23 Meter Mauer

Kurz nach seinem Amtsantritt liess Biasiutti dieses Projekt fallen und bedankte sich beim oppositionellen Grimselverein dafür, dass der Verein mit seinem Widerstand das Unternehmen vor einer folgenschweren Investition bewahrt hatte. Dann legte er das Projekt KWO plus vor: «KWO plus beherzigt die Kritik an Grimsel West. Es ist ein Kompromiss», sagt Biasiutti. KWO plus besteht aus fünf Ausbaustufen. Zwei davon sind schon umgesetzt. Nun geht es um die Ausbaustufe drei - die Mauererhöhung.

Biasiutti suchte das Gespräch mit den Umweltverbänden und dem Grimselverein und hoffte auf ihre Zustimmung. Doch die Rechnung ging nicht auf. Heini Glauser, Energiefachmann und Präsident von Greenpeace Schweiz und einer der vehementesten Kritiker: «Das KWO-Projekt lag schon vor, als Biasiutti mit uns zu reden begann. Er wollte unsere Zustimmung, wir aber wollten über Alternativen zu diesem unsinnigen Projekt reden.»

Unsinniges Projekt? Diesen Vorwurf weist Biasiutti zurück. Die geplante Staumauer ist für ihn ein Gebot der Vernunft: Damit lässt sich der Speicherinhalt des Sees um siebzig Prozent erhöhen. «Wir können die anfallenden Wassermassen besser speichern. Heute müssen wir Strom produzieren, damit uns der See nicht überläuft.»

Die Erhöhung der Mauer, die 130 Millionen Franken koste, sei ein gutes Vorhaben, das sich rentieren werde, sagt Biasiutti. Zudem sei Wasserkraft nachhaltig und umweltfreundlich: die Aristokratin unter den Primärenergien. In der Schweiz könne man keine weiteren Täler in Stauseen verwandeln, also müsse man sich auf die bestehenden Anlagen konzentrieren. «Das wiegt doch die Nachteile des Projektes bei weitem auf», sagt Biasiutti. Nachteile? Da ist vor allem die Überschwemmung von Teilen einer Moorlandschaft sowie des Gletschervorfeldes. «Die Verluste halten sich in Grenzen», sagt er, «von der Moorfläche gehen etwa 2000 Quadratmeter verloren, die Fläche zweier Einfamilienhäuser.» Er stützt sich auf die Auslegung des Bundesrates, der die Ausdehnung der geschützten Moorlandschaft «Sunnig Aar» so festgelegt hat, dass der zusätzliche Aufstau des Grimselsees möglich ist.

Die GegnerInnen von KWO plus widersprechen der bundesrätlichen Auslegung und verweisen auf eigene Gutachten, die dem Schutz der Moorlandschaft oberste Priorität durch die Verfassung einräumen. «Man kann von uns nicht verlangen, dass wir den Moorschutzartikel beugen», sagt Heini Glauser: «Darüber kann nur das Bundesgericht entscheiden.»

Hier enden die Dialogkünste von Biasiutti. Sein Fazit: «Die Umweltverbände sind grundsätzlich gegen die Überschwemmung von weiteren Landstrichen und gegen Investitionen in grosstechnische Anlagen.»

Pumpen für Europa

Tatsächlich geht es nicht nur um Moorschutz, sondern auch um unüberwindliche energiepolitische Gegensätze. Biasiutti ist überzeugt, dass KWO plus genau in den internationalen Markt passt. Denn damit können die KWO - so Biasiutti - zusätzliche wertvolle Energie produzieren und als Regelanlage die Schwankungen im Netz ausgleichen. Regeln, das bedeutet in diesem Fall Pumpspeicherung. Wenn zu viel Strom vorhanden ist, wird Wasser in die Speicherseen zurückgepumpt, wenn der Bedarf ansteigt, wird dieses Wasser wieder über die Turbine geleitet. «Pumpspeicherung ist ein integraler Bestandteil des europäischen Stromnetzes», sagt Biasiutti.

Die Pumpspeicherung ist dagegen für die Umweltverbände ein rotes Tuch. Beim Pumpen wird etwa ein Viertel der Energie vernichtet. Das passt nicht mehr richtig in die energiepolitische Landschaft, seit Bundesrat Adolf Ogi die KonsumentInnen mit seiner Eierkochaktion (Deckel drauf!) zum Stromsparen animiert hat.

Die vierte Projektstufe von KWO plus sieht nun ein Pumpspeicherwerk auf der Grimsel vor. Doch Biasiutti sagt, die Erhöhung der Staumauer habe damit nichts zu tun. «Die Gegner schaffen Zusammenhänge, die es schlicht nicht gibt.»

Glauser hält am Vorwurf fest, dass die höhere Mauer und das geplante Pumpwerk etwas miteinander zu tun haben: «Ein grösserer See macht nur dann Sinn, wenn auch gepumpt werden kann.» Er zweifelt die Prognosen der KWO an: «Sie sind sehr vage. Kurzfristig wird wegen des Gletscherschwundes sicher mehr Wasser anfallen, aber was danach kommt, ist ungewiss.»

Seit einiger Zeit kommt der Widerstand nicht nur von den Umweltverbänden, sondern auch von den EignerInnen der KWO. In den Städten Bern, Basel und Zürich, die zusammen fünfzig Prozent der KWO-Aktien besitzen, sind die rot-grünen Parteien aktiv geworden. (Die BKW, die die andere Hälfte der Aktien besitzt, gehört dem mehrheitlich bürgerlichen Kanton Bern.) In Bern hat die rot-grüne Mehrheit die Stadtregierung verpflichtet, KWO plus im Verwaltungsrat zu bekämpfen. Biasiutti macht sich Vorwürfe, dass er nicht rechtzeitig in die Diskussion eingegriffen hatte - und hofft, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist: «Verantwortliche Politiker werden unsere Argumente zur Kenntnis nehmen und auf den Entscheid zurückkommen.» Auch in Basel forderte das Parlament eine Überprüfung des Projekts. Ein neuer PR-Mann der KWO soll dafür sorgen, dass in der Stadt Zürich nicht noch einmal das gleiche Missgeschick passiert.

Inseratekampagne

Staumauerstreite sind im Oberhasli fundamentale Streite. Grimsel West vergiftete seinerzeit die Atmosphäre: Leute wurden nicht mehr gegrüsst und sassen plötzlich allein am Wirtshaustisch. Lieferanten wurden nicht mehr berücksichtigt. Mit Biasiutti entspannte sich die Situation, er brachte Perspektiven ins Oberhasli, etwa mit einer Turbinenwerkstätte, die heute vierzig Angestellte beschäftigt. Auch investierte er vermehrt in die touristische Nutzung der Kraftwerksanlagen: «Wir sind heute wohl das am meisten diversifizierte Kraftwerkunternehmen der Schweiz», sagt er. Die KWO beschäftigen rund 220 Personen und sind damit der grösste industrielle Arbeitgeber im Tal.

Biasiutti weiss das gewonnene Prestige zu nutzen. So suchen die KWO in der «Jungfrau-Zeitung» regelmässig mit viertelseitigen Inseraten hoch qualifizierte Fachleute. «Das ist Image-Kommunikation», sagt Biasiutti: «Wir wissen, dass wir diese Leute nicht über die regionale Presse finden, aber wir wollen den Einheimischen zeigen, dass wir Arbeitsplätze schaffen.» Er weiss das lokale Establishment hinter sich, auch dank vielfältiger Verflechtungen mit seinem Unternehmen: Stefan Regez, Chefredaktor der «Jungfrau-Zeitung», ist der Sohn eines KWO-Vizedirektors, SP-Grossrat Roland Künzler und der Gemeindepräsident von Innertkirchen stehen auf der Lohnliste der KWO, und Walter Brog, der Präsident der «Landsgemeinde» - ein privater Verein, dessen Mitglieder vorwiegend Gross- und GemeinderätInnen sind -, hat kürzlich den Sprung in den Verwaltungsrat der KWO geschafft. Greenpeace-Präsident Glauser kennt die daraus resultierende Dynamik aus eigenen Erfahrungen: «Als ich einmal unsere Position präsentierte, kamen die scharfen Voten von den lokalen Grössen. Biasiutti hingegen hielt sich vornehm und generös zurück.»

Auseinander geredet

Der Grimselverein wurde 1987 als Antwort auf das Projekt Grimsel West gegründet. Binnen kurzer Zeit hatte er rund 2000 Mitglieder, davon ein Viertel aus dem Tal. Biasiutti schätzte dieses Potenzial richtig ein und nahm Kontakt auf. Man redete viel und kam sich näher: Der Grimselverein wollte sich nicht grundsätzlich gegen das Projekt stellen. Biasiutti hoffte darauf, über den Grimselverein auch die nationalen Organisationen einzubinden. Der Grimselverein blieb Dialogpartner, auch nachdem die Umweltorganisationen 2003 das Gespräch abgebrochen hatten. Im Januar 2005 war dann aber plötzlich Schluss. Biasiutti: «Der Grimselverein hat immer nur «ja, aber» gesagt. Als wir endlich Nägel mit Köpfen machen wollten, ging das nicht mehr.» Die KWO und die «Landsgemeinde» hatten sich auf einen gemeinsamen Entwicklungsplan für die Region geeinigt, der Grimselverein geriet in die Defensive.

Urs Eichenberger ist Meiringer, lebt aber schon lange in Zürich. Er hat das Präsidium des Grimselvereins übernommen, weil er nicht will, dass der Verein untergeht. Eichenberger hat den Dialog bis zum bitteren Ende mitgetragen - auch als ein Teil der Basis schon aussteigen wollte: «Ich glaube, wir haben dem Tal damit gezeigt, dass man mit uns reden kann. Das hat unsere Glaubwürdigkeit erhöht.» Aber die gemeinsam von den KWO mitgetragene Plattform «Spirit of Grimsel» habe sich immer weiter von dem entfernt, was seiner Organisation einst vorgeschwebt hatte. «Statt um Ausgleichmassnahmen ging es plötzlich um eine Stiftung und um die Forderung der KWO, dass mit den Stiftungsgeldern die Anwaltskosten der KWO bei Einsprachen zu bezahlen seien.» «Das stimmt», sagt Biasiutti, «das war ein Fehler. Wir wollen die Stiftung nun ohne diese Auflage gründen.»

Im Nachhinein fühlt sich der Grimselverein hingehalten: «Wir haben wohl zu lange auf Gespräche gesetzt und uns zu sehr in der politischen Diskussion zurückgehalten. Anders als die KWO, die sehr aktiv lobbyiert haben», sagt Eichenberger.

Gang durch die Institutionen

Im Büro des Direktors hört man den Verkehr auf der Grimselstrasse. Biasiutti weiss sich in einer Hängepartie. Im Herbst wird er das Bauprojekt für die Erhöhung der Grimselmauer auflegen. Dann kommen die Einsprachen und der Gang durch die Instanzen. Aus seiner Sicht ist alles gemacht worden, um die Opposition an Bord zu holen. «Kann man es sich tatsächlich leisten, aufgrund unterschiedlicher Interessen in einen Stillstand zu geraten? Warum kann man nicht die Differenzen beiseite lassen und sich auf das Gemeinsame konzentrieren, sich etwa dafür begeistern, dass wir hier in Innertkirchen ein geothermisches Kraftwerk bauen?»

Es sind rhetorische Fragen. Die Antworten vom Grimselverein sind es nicht: «Die Mauererhöhung am Grimsel ist nicht von nationaler Bedeutung. Sie ermöglicht lediglich eine flexiblere Wassernutzung als heute. Weiterbetrieb und Ausbau der KWO-Aktivitäten hängen nicht davon ab», hält Eichenberger dagegen: «Die KWO reden über die positiven Folgewirkungen für das Tal, meinen aber vor allem die eigenen Vorteile.» Auch für Glauser gibt es kein übergeordnetes Interesse, um über die Differenzen hinwegzusehen. Er erinnert noch einmal an den Systemfehler, der dem Dialog von Anfang an innewohnte: «Wir wollten mit den KWO über Kompromisse reden, wir wollten sie dazu bewegen, statt in die Mauer in dezentrale Wärme-Kraft-Koppelung zu investieren, in den Betrieb und die Revision von Kleinkraftwerken, in den Ersatz der Elektrospeicheröfen.» Aber Biasiutti habe die Mauer gewollt, unbedingt.