Abstimmung zum Stromgesetz: Trotz Kritik – Nein ist keine Option
Die Umweltorganisationen Aqua Viva, Mountain Wilderness und Stiftung Landschaftsschutz haben Teile des Stromgesetzes immer wieder angeprangert. Trotzdem plädieren sie nun für ein Ja am 9. Juni.
War es Schlamperei? Oder hatte es System? Eine Recherche der freien Journalistin Catherine Duttweiler enthüllte vorletzten Winter Haarsträubendes über das Bundesamt für Energie (BFE).
Duttweiler wollte wissen, wie das Resultat des «Runden Tisches Wasserkraft» zustande gekommen war: Am runden Tisch einigten sich 2021 die Kantone, die Strombranche, WWF, Pro Natura und der Schweizerische Fischereiverband auf fünfzehn Wasserkraftprojekte, die Priorität haben sollten. Initiiert hatte den Prozess die damalige Energieministerin Simonetta Sommaruga.
Das Parlament übernahm die Liste des runden Tisches – und schrieb sie kurzerhand als Anhang ins Stromversorgungsgesetz, ergänzt um ein weiteres Projekt aus Graubünden. Somit sind die geplanten Wasserkraftwerke Teil des sogenannten Stromgesetzes, das am 9. Juni an die Urne kommt: Ihr Bau gilt als nationales Interesse und hat «grundsätzlichen Vorrang» gegenüber anderen nationalen Interessen wie dem Natur- und Landschaftsschutz.
Das «Gornerli» verteidigen
Unter den Projekten mit Vorrang sind Erhöhungen von bestehenden Staumauern, aber auch neue Kraftwerke in intakten Landschaften, etwa in der Trift im Berner Oberland, im Walliser Binntal und am Gornergletscher bei Zermatt. In der Abschlusserklärung des runden Tisches hiess es, dies seien die Projekte, die «mit möglichst geringen Auswirkungen auf Biodiversität und Landschaft» umgesetzt werden könnten. Duttweilers Recherche zeigte: Das stimmt nicht. Die Liste hat keine wissenschaftliche Grundlage. Das BFE rückte die Dokumente, die Duttweiler, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, anforderte, erst nach Monaten heraus. Und es gab selber zu: «Wegen grosser Datenlücken konnten insbesondere bei der Biodiversität verschiedene Aspekte […] nicht oder nur oberflächlich beurteilt werden.»
Eine Erweiterung des Wasserkraftwerks Grande Dixence im Wallis wurde von der Liste gestrichen, obwohl sie laut BFE den «geringsten Biodiversitäts- und Landschaftseingriff» zur Folge gehabt hätte. Denn das Bundesamt wollte das Projekt am Gornergletscher unbedingt auf der Liste haben – und das Wasser der mit Stollen verbundenen Walliser Täler hätte nicht für beide gereicht. Das «Gornerli»-Kraftwerk war der Grund, warum sich Raimund Rodewald, der Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL), vom runden Tisch distanzierte, obwohl er an den Gesprächen teilgenommen hatte.
«Es war klar, dass der runde Tisch nie nur eine Absichtserklärung war», sagt Rodewald heute. Die SL werde sich weiterhin gegen das «Gornerli»-Projekt wehren: «Der Gornergletscher am Fuss des Monte Rosa ist der zweitgrösste Gletscher der Schweiz und steht unter nationalem Schutz. Eine Staumauer wäre hier ein brutaler Ersteingriff.»
Trotzdem habe sich der Stiftungsrat der SL einstimmig für ein Ja zum Stromgesetz ausgesprochen. «Es ist gelungen, eine massive Schwächung des Natur- und Landschaftsschutzes abzuwenden.»
Positiv sieht Rodewald auch den Verordnungsentwurf zum Stromgesetz. Ärgerlich sei zwar, dass Restwasserstrecken unterhalb von Wasserfassungen neu durch geschützte Auengebiete führen dürften. «Mit dem Verordnungstext steigen jedoch die Chancen für die Umweltverbände, dass ihre Argumente berücksichtigt werden, falls es zu einem Rechtsstreit in einem solchen Fall kommt. Das Verbandsbeschwerderecht bleibt ja zum Glück bestehen.»
«Ein sehr kritisches Ja»
Die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva hat die neue Regelung zu den Restwasserstrecken stets kritisiert. «Es ist zudem fragwürdig, dass das Parlament konkrete Bauprojekte ins Gesetz geschrieben hat», sagt Aqua-Viva-Geschäftsführerin Salome Steiner. «Nur noch fünf Prozent der Schweizer Gewässer sind ganz intakt; vielen Arten, die auf Wasser angewiesen sind, geht es schlecht.» Aber auch Aqua Viva empfiehlt ein Ja am 9. Juni. «Als Ganzes geht das Stromgesetz in die richtige Richtung. Auch die Gewässer sind auf Klimaschutz angewiesen. Fische leiden unter der Hitze.»
Gemäss den im Stromgesetz definierten Zielen solle der Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung zu achtzig Prozent auf bestehender Infrastruktur stattfinden, sagt Steiner. «Wir hoffen, dass mit dem Solarausbau langfristig der Druck auf die Gewässer abnimmt.» Aqua Viva werde sich aber wie bisher für den Schutz der letzten intakten Gewässer wehren – der Verein hat Ende 2023 eine Beschwerde gegen den Bau des Kraftwerks in der Trift eingereicht.
Ähnlich äussert sich Maren Kern, Geschäftsleiterin von Mountain Wilderness: «Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass unverbaute Gebiete geschont bleiben.» Mountain Wilderness unterstützt die Trift-Beschwerde von Aqua Viva und möchte sich auch für den Schutz des Gornergebiets einsetzen. «Wir sagen Ja zum Stromgesetz, aber es ist ein sehr kritisches Ja.» Die Vorlage habe viele positive Elemente, etwa die neuen Effizienz- und Stromsparziele – «auch wenn sie viel ambitionierter sein sollten».
Kern nennt ein weiteres Argument für ein Ja: «Für den Solarausbau ist das Stromgesetz viel besser als der Solarexpress.» Mit dem Solarexpress herrsche Wildwuchs, mit dem Stromgesetz würden die Kantone hingegen verpflichtet, Eignungsgebiete für Solar- und Windkraft festzulegen.
Anders als das Stromgesetz ist der Solarexpress bereits in Kraft. Das Parlament beschloss ihn im Herbst 2022 als dringliche Massnahme, die ohne die übliche Vernehmlassung sofort galt: In den Alpen dürfen ohne Planungspflicht Solaranlagen in die Landschaft gebaut werden. Sie sind von nationalem Interesse und bekommen hohe Subventionen, wenn ein Teil der Anlage bis Ende 2025 am Netz ist. Es war der Herbst, in dem der Bundesrat vor der Drohkulisse «Strommangellage» auch das fossile Ersatzkraftwerk im Aargauer Dorf Birr durchdrückte – illegal, wie das Bundesverwaltungsgericht kürzlich festhielt (siehe WOZ Nr. 9/24). Inzwischen hat die Goldgräberstimmung in den Alpenkantonen einen Dämpfer erfahren, manche Grossprojekte scheitern an der Technik, andere am Nein der Gemeinden. Sogar der Walliser Mitte-Staatsrat Roberto Schmidt, Präsident der kantonalen Energiedirektor:innen, nannte den Solarexpress letzte Woche in der NZZ einen «Schnellschuss».
«Ich hätte lieber ein Referendum gegen den Solarexpress als gegen das Stromgesetz gehabt», sagt Landschaftsschützer Raimund Rodewald. «Der Solarexpress übt grossen Druck auf die Landschaft aus. Hoffentlich wird er nicht verlängert.»
Fragwürdige Heimatretter:innen
Einige Umweltorganisationen wie der Grimselverein lehnen das Stromgesetz ab (siehe WOZ Nr. 17/24). Er verstehe deren Sorge und Kritik, sagt Rodewald. «Auch ich habe Angst, dass es nicht bei den sechzehn Wasserkraftprojekten bleibt, dass der Landschaftsschutz in manchen Eignungsgebieten unter die Räder gerät.» Aber diese Angst sei kein Argument für ein Nein am 9. Juni: «Es ist mitnichten so, dass bei einem Nein die Solarpflicht auf den Dächern kommt, die wir uns wünschen. Das jetzige Parlament macht kaum ein Gesetz nach dem Gusto der linken Gegner:innen.» Bei einem Nein drohten vielmehr eine Verlängerung des Solarexpresses, weitere Notgesetzgebungen, die Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts. «Die Dekarbonisierung würde in weite Ferne rücken, dafür erhielte die Atomkraft Aufwind.» Sich mit der Neinallianz zu verbünden, sei für ihn undenkbar: «Jetzt spielen sich SVPler:innen als Retter der Heimat auf, nachdem sie jahrzehntelang alles getan haben, um uns das Leben schwer zu machen.»
Auch für Maren Kern von Mountain Wilderness ist das eines der wichtigsten Argumente für ein Ja am 9. Juni: «Die Wahrscheinlichkeit, dass das jetzige Parlament eine bessere Vorlage ausarbeitet, ist gleich null.»