«Gisi» in Gefahr: Bock haben, etwas reissen, alles in Eigenregie
Die älteste Besetzung Winterthurs ist akut von der Räumung bedroht. Vier Aktivist:innen erzählen, was damit verloren ginge.

Zwei Dutzend gewaltbereite Neonazis vor der Tür, Polizist:innen, die eine Razzia erzwingen wollen, medial in Szene gesetzte Lärmklagen von Anwohner:innen – all dem hat die «Gisi» in den letzten 28 Jahren getrotzt. Nun droht der ältesten Besetzung Winterthurs, an der General-Guisan-Strasse am äussersten Rand der Altstadt gelegen, das endgültige Aus. Terresta, Verwalterin der Immobilie, hat Ende Mai unmissverständlich verkündet: «Die Besetzung der ‹Gisi› wird 2026 enden.»*
Vier Menschen mit engen, langjährigen Beziehungen zur «Gisi» sitzen in einem Gemeinschaftsraum im zweiten Stock und erzählen von ihrer Verbindung zu diesem Ort. Ihren Nachnamen wollen sie nicht in der Zeitung veröffentlichen.
Zej (27)
Ich bin in Bosnien geboren und als Kind in die Schweiz gekommen. Die Behörden platzierten mich im Zürcher Oberland. In Winterthur habe ich die Berufsschule besucht, die hier in der Nähe liegt. Mir hat das Haus von aussen immer schon gefallen. Im März vor zwei Jahren bin ich dann erstmals auch drinnen gewesen, eine Freundin hat mich in die Flinta*-Bar mitgenommen, die einmal im Monat stattfindet. Ich bin eine queere, migrantische und muslimische Person und habe sofort gemerkt, dass hier drin Leute sind, die mich checken, dass das ein Ort ist, wo ich mich wohlfühle.
Ich bin dann rasch dem Subcultura-Kollektiv beigetreten, das im Haus den Barbetrieb und Anlässe organisiert. Von uns für uns gemacht, diesen Ansatz finde ich toll. Ich hatte davor nicht wirklich viele Friends, und plötzlich war ich Teil dieser Szene. Im letzten Herbst hab ich in der «Gisi» zum ersten Mal in meinem Leben Geburtstag gefeiert. Es war mühsam, das zu organisieren, aber dann war es ein megaschöner Abend.
Die «Gisi» und ihre Menschen sind mittlerweile ein wirklich grosser Teil meines Lebens. Ich wohne hier zwar nicht, aber der Ort fühlt sich wie ein Zuhause an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es die «Gisi» bald nicht mehr geben soll. Manchmal laufe ich durch die Gänge, und dann rollen mir Tränen über die Wange.
Terresta, die Verwalterin* der besetzten «Gisi», ist eine ziemlich einzigartige Immobilienfirma. Sie ist Teil der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), die das milliardenschwere Erbe von Bruno Stefanini verwaltet: eine riesige Kunstsammlung sowie ein Immobilienportfolio mit über 200 Gebäuden und 2000 Wohnungen, die fast alle in Winterthur liegen.


Stefanini, der 2018 verstarb, hatte viele seiner Liegenschaften vernachlässigt, wodurch in der Stadt lange Zeit günstiger – oder wie im Fall der «Gisi» auch besetzter – Wohnraum bestehen blieb. Mittlerweile hat seine Tochter Bettina Stefanini die Kontrolle bei der SKKG übernommen und vor vier Jahren eine neue Immobilienstrategie beschlossen: Sie will mittelfristig eine Milliarde Franken in Renovationen investieren.
Kim (35)
Bis vor kurzem war ich Teil des «Gisi»-Wohnkollektivs, acht Jahre lang. Ich bin hier gelandet, weil ich schon lange in politischen Kontexten unterwegs war, aber auch weil ich nichts anderes zum Wohnen gefunden habe, es gibt ja praktisch keinen günstigen Wohnraum mehr in der Stadt. Aus diesem Grund bin ich auch in der «Häuservernetzung Winterthur» aktiv. Der Druck auf Freiräume und günstigen Wohnraum nimmt ständig zu, auch mit repressiven Mitteln, denn das System, das Kapital, die Eigentümer:innen, die wollen uns – als bewusste Alternative dazu – nicht.
Es leben und wirken hier in der «Gisi» Menschen, die teils nur kurz da sind, während andere Jahre oder gar Jahrzehnte bleiben. Das heisst, es gibt immer wieder neue Zusammensetzungen und Dynamiken, Veränderungen. Das ist sehr bereichernd, und ich habe hier einen riesigen Lernprozess erlebt. Natürlich auch, weil bereits sehr gute Strukturen bestanden haben, als ich eingezogen bin.
Die schönsten Momente waren immer jene kurz vor dem jährlichen Hausfest: die gemeinsamen Vorbereitungen, zusammen etwas reissen, Bock haben. Alles in Eigenregie, ohne dass jemand etwas daran verdient, ohne dass jemand von oben herab entscheidet. Das hat mir immer sehr gefallen. Es ist ein Ort, wo man Ideen umsetzen kann und Unterstützung dafür findet.
Winterthur war bis in die neunziger Jahre vor allem ein Maschinenindustriestandort. Auf die Abwicklung dieser Industrie reagierte die sechstgrösste Stadt der Schweiz vor allem mit dem Umbau der früheren Industrieareale in teure Wohnblöcke oder Konsumzentren – Winterthur als attraktiver Standort für gute Steuerzahler:innen. Tatsächlich ist die Einwohner:innenzahl stark gestiegen. Lebten um die Jahrtausendwende noch rund 90 000 Personen in Winterthur, sind es heute über 120 000. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt, dass im nahen Zürich die Mietkosten schon viel früher stark angestiegen sind. Viele sind nach Winterthur ausgewichen. Heute herrscht auch hier Wohnungsnot.
Wintis Häuserkampf
Neben der «Gisi» sind in Winterthur zwei weitere besetzte Häuser, die der SKKG gehören, räumungsbedroht: an der Schaffhauserstrasse und der Zürcherstrasse. Auch zwei Wagenplätze auf städtischem Boden sollen aufgelöst werden.
Mit der «Häuservernetzung Winterthur» ist in den letzten Jahren ein breiter Zusammenschluss entstanden, der sich gegen Räumungen wehrt.
Luisa (45)
In dem Zimmer, wo wir gerade sitzen und reden, habe ich Anfang 1997 ein paar Monate gelebt. Wir hatten die «Gisi» damals gerade frisch besetzt. Kurz zuvor war das «Planet Marx» geräumt worden, ein autonomer Wohn- und Kulturraum ohne Konsumzwang, den es in dieser Grösse zuvor nicht gegeben hatte. Ein gewaltiger Verlust. Umso grösser war die Freude, einen Ort gefunden zu haben, wo ebenfalls kulturelle und politische Projekte möglich waren. Für mich selbst war es immer extrem wichtig, mit Menschen zusammen zu sein, die eine antifaschistische und antirassistische Haltung teilen.
1999 wurde uns zum ersten Mal die Räumung angedroht. Wir haben daraufhin grosse Solidarität erfahren, was uns bestärkt hat im Willen, diesen Ort zu erhalten. Damals lebte Bruno Stefanini noch, und es gab keine Renovationspläne – weder für die «Gisi» noch für seine anderen Liegenschaften. Die Stadtaufwertung und die damit einhergehende Vernichtung von günstigem Wohnraum war noch viel weniger ein Thema.
Was Akteur:innen wie Terresta oder auch die Stadtverwaltung nicht sehen wollen, ist, dass die «Gisi» viel mehr ist als ein Haus. Mehr als die Menschen, die hier wohnen. Als politischer und kultureller Freiraum prägt und ermächtigt die «Gisi» seit fast drei Jahrzehnten unzählige Menschen. Es ist auch ein Ort, der immer in Bewegung ist. Zu Beginn lief hier eigentlich nur Punk, ein Awarenesskonzept gab es nicht. Heute ist alles viel inklusiver, viel diverser und freundlicher.
Über fünfzig Häuser und Areale wurden in Winterthur in den vergangenen vier Jahrzehnten besetzt. Nur wenige davon sind es bis heute. Gerade in jüngerer Zeit ist der behördliche Umgang damit repressiver geworden. Der Infoladen Rabia im Stadtteil Veltheim hat diese Geschichte des Häuserkampfs dokumentiert. Der Laden war 1995 selbst aus einer Besetzung hervorgegangen. Vier Jahre später konnte eine kleine, bestehende Genossenschaft das entsprechende Haus kaufen. Die Bewohner:innen durften bleiben.
Eine ähnliche Geschichte weist die ehemalige Besetzung «Helvti» auf. Die städtische Liegenschaft, keine zehn Gehminuten von der «Gisi» entfernt, wurde 1989 besetzt und konnte fünf Jahre später im Baurecht übernommen werden. Bis heute ist das Haus gemeinschaftlich bewohnt und selbstverwaltet. Im Fall der «Gisi» scheint ein ähnlicher Prozess unrealistisch. Es gab zwar Gespräche mit Terresta und gegenseitige Angebote, aber eine Einigung blieb aus. Die Firma hält am Vorhaben fest, die Besetzung nächstes Jahr zu beenden.
Rinaldo (29)
Ich kam vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal in die «Gisi». Ich komme aus einem kleinen Dorf und kannte nichts dergleichen ausser ein paar Punkalben meines Bruders und meines Vaters. Durch Zufall lernte ich im gleichen Dorf Leute kennen, die bereits in der «Gisi» aktiv waren. Eine dieser Personen hat mich dann mal mitgenommen, und ich habe sofort Boden unter den Füssen gekriegt. Für mich ging eine neue Welt auf, meine Welt, in der ich mehr als nur «Konsument» sein konnte. Ich wurde mit meinen Weltanschauungen ernst genommen, konnte an Diskussionen mehr über meine Werte und Vorstellungen lernen und wurde sofort in kollektive Aufgaben miteinbezogen.
Von da an bin ich wöchentlich in die «Gisi» gegangen, sie ist bis heute ein wichtiger Safe Space für mich. Dieser Ort ist nicht ersetzbar. Während all der letzten Jahre mussten wir uns wegen polizeilicher Räumungen schon von etlichen ähnlichen Freiräumen verabschieden. In Zürich etwa vom «Koch». Jahr für Jahr gehen mehr Freiräume verloren. Immobilienfirmen und die Stadt beweisen damit, dass Vielfalt und Kultur ausserhalb ihres Marketings für sie nicht von Interesse sind. Stattdessen ziehen sie Glastürme hoch. Terresta gibt sich sozial, nachhaltig, kulturfördernd, aber wie kann man nah am Menschen sein und zugleich Leute aus ihren Wohnungen vertreiben? Orte mit enormer gesellschaftlicher und subkultureller Bedeutung auslöschen? Was für die Terresta nichts als eine Geldanlage ist, ist für uns mehr als nur ein Zuhause.
Am Freitag, 29. August 2025, und Samstag, 30. August 2025, findet in der «Gisi» das traditionelle Hausfest statt.
* Korrigenda vom 22. August 2025: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion hatten wir Terresta als «Inhaberin» der «Gisi»-Immobilie bezeichnet. Das ist nicht korrekt. Die Liegenschaft an der General-Guisan-Strasse 31 befindet sich im Eigentum der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), zu der die Firma Terresta gehört. Sie bewirtschaftet, unterhält und entwickelt die Liegenschaften der SKKG.