Literatur: Zwischen «Yps» und «Eisbrecher»

Man könnte ihr stundenlang zuhören, dieser Ich-Erzählerin ohne Namen, die so leichtfüssig und träf mitten aus dem beengten Leben im «Fischbauch» berichtet, der eigentlich ein Arbeiter:innenwohnhaus in der Zürcher Agglo ist, in dem sie das Zimmer mit ihrer älteren Schwester und dem Grossvater teilen muss. «‹In diesem Haus wird man kein rechter Mensch›, sagt er und wir sorgen uns um unser Menschsein, ‹hier wird man bloss verrückt!›, und da sorgen wir uns um Grossvater.» Der hat Heimweh, nach Ungarn, von wo die Familie eingewandert ist.
Mit dieser Stimme, die beim Lesen einen solchen Sog entwickelt und eine:n gleichzeitig in einen eigenartigen Schwebezustand versetzt, ist Katinka Ruffieux ein bemerkenswertes Debüt gelungen. «Zu wenig vom Guten» erzählt aus der Perspektive eines Mädchens an der Schwelle zur Pubertät vom Aufwachsen in einer Migrant:innenfamilie Ende der siebziger Jahre. In kurzen Episoden und Kapiteln, von denen viele auch als eigenständige Kurzgeschichten glänzen könnten, entfaltet Ruffieux einen komplexen Familienkosmos, der in sorgsam eingestreuten Miniaturen ebenso die Atmosphäre der Zeitgeschichte aufleben lässt: das Comicmagazin «Yps» mit seinen Gimmicks, die TV-Serie «Raumpatrouille», Doppellutscher – und ja, auch die Zürcher Jugendunruhen mitsamt AJZ und «Eisbrecher». Dabei eröffnet die Ich-Erzählerin aus ihrer Position immer wieder erhellende Blicke auf Schweizer Eigenheiten, manche liebenswert ironisch zugespitzt – Riz Casimir! –, andere entlarvend punkto gern verdrängter Fremdenfeindlichkeit.
Dass das Lesen ein Schweben über dem Abgrund ist, schwingt immer mit: Der Geschichte ist eine kurze Szene aus der Zukunft vorangestellt, in der sich die Ich-Erzählerin mit der Mutter aufmacht, die Asche der Schwester im Wald zu verstreuen. Auch sonst gibt es der traurigen, ja tragischen Momente genug im jungen Leben der Protagonistin. Doch der Sound ihrer Stimme trägt auch über diese Abgründe – oft mit Humor, aber nie mit Bitterkeit oder Larmoyanz.