Vladimir Arsenijevic: Die seltsame Krankheit meines Grossvaters

Nr. 47 –

Der 1965 geborene Vladimir Arsenijevic ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Serbiens. Die WOZ publiziert hier Arsenijevics Erinnerungen an seinen Grossvater, der nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz kam.

Der Zweite Weltkrieg erwischte den Stiefvater meiner Mutter, einen Offizier der königlichen jugoslawischen Armee, im Dienst im herzegowinischen Nevesinje. In einem Pavillon für Offiziere in unmittelbarer Nähe der Kaserne wohnte er mit seiner Ehefrau, einer jungen Witwe, deren erster Mann auf tragische Weise das Leben verloren hatte, und mit ihrer Tochter – meiner Mutter –, die er annahm, als wäre sie seine eigene. Ein Jahr vor dem Krieg wurde auch meine Tante geboren, die Halbschwester meiner Mutter.

In Nevesinje lebten sie, so gut es eben ging – die Stadt hatte in dieser Zeit noch nicht einmal Strom –, doch mit der Hoffnung, in einigen Jahren an einen besseren Ort umzuziehen. Nach Sarajevo zum Beispiel. Und vielleicht einmal, mit etwas Glück und guten Beziehungen, sogar nach Belgrad.

Der nagende Mangel an Freiheit

Der Krieg, der im April 1941 ausbrach, vernichtete jedoch alle Pläne in einem Zug und zerstreute ihre zerbrechlichen Leben, die bis dahin von dem durch nichts begründeten Glauben an dieses «bessere Morgen» zusammengehalten wurden, das in Wirklichkeit nirgendwo in Sicht war.

Nach raschem Abschied von Frau und Kindern ging mein Grossvater in den Krieg. Seine Frau sollte er nie mehr sehen – sie starb, erschöpft, in jenen ersten schweren Nachkriegsjahren im serbischen Pozarevac. Die Töchter sollte er erst viele Jahre später treffen. Bis zur Kapitulation Jugoslawiens noch im selben Monat kämpfte er in der Umgebung von Nevesinje gegen die Italiener, dann wurde er gefangen genommen und mit einer Gruppe anderer Offiziere in das sogenannte Campo 64 in den Norden Italiens verfrachtet.

So endete der Krieg für ihn gleich da, gleich zu Beginn. In den folgenden zweieinhalb Jahren sah er zu, dass er zurechtkam mit der Einsamkeit, der Hilflosigkeit, der Rechtlosigkeit, dem Hunger sowie mit dem akuten Mangel an Informationen darüber, was in der Aussenwelt geschah.

Wie viele andere ging auch mein Grossvater in den Krieg, bereit zu sterben oder schwer verletzt zu werden, nicht aber, um in Gefangenschaft zu geraten. Der Mangel an Freiheit nagte an ihm Tag für Tag. Wie die Zeit fortschritt, wurde er sich selbst immer unerträglicher. Das Einzige, was er wirklich wünschte, war, sich hinzulegen, die Augen zu schliessen und irgendwohin zu schweben. Wenn möglich für immer. Wandte sich ihm jemand zu, erwachte in ihm eine irrationale Wut. Er hasste alles und jeden. Er war sicher, den Verstand zu verlieren. Er war nicht der Einzige.

Zu Fuss über die Alpen

Diesen Zustand der kolossalen Apathie und Trägheit, gemischt mit unkontrollierten Ausbrüchen irrationalen Hasses gegen alles, was sich bewegt, auch gegen sich selbst, nannten die Inhaftierten einfach «Absterben». Erst später erfuhren sie, dass britische Offiziere schon eine etwas geistreichere Bezeichnung für das gleiche Syndrom erdacht hatten: «Gefangenitis», nach dem deutschen Wort «gefangen».

Als im Spätsommer 1943 das faschistische Italien zusammenbrach, verliessen die Wächter wortlos die Lager und liessen die Tore weit offen. Die Mehrheit der Gefangenen ging damals zu Fuss über die Alpen und erreichte irgendwie die Grenze zur Schweiz, wo sie schliesslich auf freiem Territorium empfangen wurden. Aber nicht als freie Menschen.

Von neuem wurden sie interniert in einer Art Empfangszentren. Obwohl dort die Bedingungen bedeutend humaner waren als in den Lagern, mussten sie warten, bis ihr rechtlicher Status geklärt war, und es verging noch ziemlich viel Zeit, bevor man ihnen provisorische Papiere bewilligte und später den sogenannten Nansen-Pass, ein Reisedokument für Flüchtlinge, das der damalige Völkerbund herausgab. Der Krieg war schon vorbei, als ihnen als politische Asylsuchende die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in der wohlhabenden, angenehmen, schönen und von kriegerischer Zerstörung verschont gebliebenen Schweiz genehmigt wurde.

Eine Wahl hatte er nicht

In der Zeit, aus der ich mich an ihn erinnere, Mitte der siebziger Jahre, war mein Grossvater bereits Rentner in ehrenwertem Alter, einfach gekleidet, aber mit einer Art Reinheit und Ordentlichkeit, die seither völlig verschwunden ist. Es gibt heute nichts mehr so Gestärktes, wie seine Hemden es waren, nichts mehr so richtig und glatt Gebügeltes, wie es die Linien seiner Stoffhosen waren, nichts Glänzenderes als seine immer polierten Schuhe und nichts Steiferes als seinen Hut mit schmaler Krempe. Er ging sehr gerade, mit der Spitze seines Stocks auf die Zürcher Bürgersteige und Kopfsteinpflaster klopfend. Obwohl er bescheiden lebte, wirkte dies damals auf mich so, als sei für ihn dieser ganze Glanz, der mich blendete, äusserst natürlich.

Heute aber sehe ich ein, dass dies gar nicht zutreffen konnte und dass sich mein Grossvater als absoluter Fremder fühlen musste in einer Umgebung, der er auf der einen Seite lebenslang dankbar war und die ihm gegenüber wohlwollend war, in der er aber trotzdem in einer unaufhörlichen, stillen Erniedrigung lebte. Da die Schweiz die Militärschulen, die er abgeschlossen hatte, nicht anerkannte, blieb ihm nichts anderes als die Anstellung als Arbeiter in einer Kugellagerfabrik. Er steckte fest, konnte nicht nach Hause und machte einfach, was er musste.

Aber als die Jahre vorübergingen, suchte jene Gefangenenmelancholie ihn immer öfter heim. Still und lustlos schleppte er sich durch das Leben, kam nicht voran, wartete auf das Ende seines Arbeitslebens in der Fabrik. Deutsch sprach er mit Schwierigkeiten, er heiratete nicht noch einmal, ging nie nach Jugoslawien zurück, auch nicht, als es wieder möglich war. Er wurde auch nie Schweizer, blieb für immer ein Besitzer des Nansen-Passes, ein Staatenloser, ein lebenslanger Flüchtling und ein lebenslanger Lagerhäftling, angesteckt mit dem unheilbaren Virus der Gefangenitis.

«Das ist eine ekelhafte Krankheit»

Die Winterferien 1975 verbrachte ich bei meinem Grossvater in Zürich. Ich war damals zehn Jahre alt. Es war das erste Mal, dass ich alleine ins Ausland reiste. Und es gefiel mir sehr mit ihm in diesen kalten Januartagen. Zwar wunderte ich mich über seine Gewohnheit, den herben Greyerzer Käse auf mit Aprikosenkonfitüre bestrichenem Schwarzbrot zu essen. Ich wunderte mich über seine unverständlichen Geschichten aus der Gefangenschaft wie auch darüber, dass er unverhohlen die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und den Genossen Tito hasste. Aber ich muss gestehen, dass er sich trotz allem, was mich an ihm verwirrte, mit mir so beschäftigte, wie man es von einem Grossvater, der nicht nur das Aufwachsen des Enkels, sondern auch der eigenen Tochter verpasst hatte, überhaupt nur erwarten konnte.

Er führte mich zum Mittagessen in sein Lieblingsrestaurant, dann zum Zürichsee, um Schwäne zu füttern, er führte mich in den Zoo, ins Schwimmbad und auf lange Spaziergänge durch die Stadt, ja sogar in die Kneipe, wo er sich jeweils am Samstagabend mit seinen Freunden traf, den ehemaligen Offizieren, mit denen er vor langer Zeit aus dem Campo 64 geflüchtet war, um eins, zwei zu trinken und einige Runden Karten zu spielen. Als wir nach Hause gingen, war es schon spät und sehr kalt. Ich hielt seine Hand. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, wirklich einen Grossvater zu haben.

Zu dieser Zeit liebte ich es, unbekannte und merkwürdige Wörter zu sammeln. Und als ich am letzten Tag meines Aufenthalts in Zürich meinen Grossvater bat, auf die letzte Seite meines Hefts ein unbekanntes Wort zu schreiben, dachte er nach, dann dachte er noch einmal nach, dann lächelte er über sich selbst und schrieb mit zitternder Handschrift.

«Gefangenitis», las ich mit Bewunderung. «Was heisst das?»

«Das ist eine ekelhafte Krankheit, die ich mir in der Gefangenschaft zugezogen habe», sagte mein Grossvater und streichelte mir über den Kopf. «Und niemals habe ich mich vollständig von ihr erholt.»

Ich flog zurück nach Hause, dieses ungewöhnliche Wort im Munde wendend. Mein Grossvater zog noch im gleichen Jahr aus seiner Wohnung an der Berninastrasse in Oerlikon in ein Quartier, in dem ausschliesslich Rentner mit tiefem Einkommen wohnten, wie er einer war. Ich sah ihn nur noch einmal, als Schwester, Mutter, Vater und ich ihn im Sommer 1978 besuchten. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Grossvater erzählte wieder von der Zeit, die er im italienischen Lager verbracht hatte, und ich hörte ihm damals mit verstärkter Aufmerksamkeit zu. Aber danach dachte ich lange nicht mehr an ihn. Ich war wie jeder Pubertierende hoffnungslos und ausschliesslich auf mich selbst konzentriert. Und mein Grossvater unterschrieb ruhig den Pakt mit dem Alter. Zehn Jahre später empfing ihn in Oerlikon der stille Tod.

Viel mitzunehmen hatte er nicht. Lediglich seine Einsamkeit, seine beunruhigende historische Erfahrung sowie seine chronische Krankheit, Gefangenitis.

Ohne Heimat, ohne Beruf, ohne Sinn

Erst kürzlich bin ich nach vielen Jahren wieder in die Schweiz gereist. Ich hatte Lesungen in Basel und Thun und nutzte den letzten Tag meines kurzen Aufenthalts, um einige Stunden allein in Zürich zu verbringen, in der Stadt, die ein wichtiges Toponym meiner Kindheit und meines Erwachsenwerdens darstellt.

Tatsächlich erwartete mich Zürich elegant und wunderschön, so wie ich mich an es erinnerte, aber gänzlich fremd. Ich spazierte in der Gegend um den Hauptbahnhof, beobachtete das ruhige Wasser der Limmat, versuchte erfolglos, mich an die gemeinsamen Wege mit dem Grossvater zu erinnern, ging die steilen Treppen der Altstadt hinauf und durch die engen Strassen, die nach Parfüm dufteten, umgeben von Reichtum und Luxus. Und plötzlich fühlte ich mich unendlich isoliert von all dem, von diesem schweizerischen, durch Jahrhunderte hindurch gefestigten Wohlstand, der in einem solch scharfen Kontrast mit meiner Lebensumgebung und mit meiner historischen Erfahrung stand, genau gleich wie er in Kontrast mit der Lebensumgebung und der historischen Erfahrung meines Grossvaters stand, eines lebenslangen Staatenlosen, eines Menschen ohne Heimat, ohne Familie, ohne Ideologie, ohne Beruf, ohne Sinn, ohne Freiheit.

Und ich erinnerte mich an seine schwere Gefangenenmelancholie wie auch an all die Kriege, durch die wir von Generation zu Generation gegangen waren, sowie an verschiedene andere Tragödien und Verrücktheiten unseres Zeitalters, die wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, auf den Schultern zu tragen gezwungen sind. Auf der Spitze des Hügels stehend, betrachtete ich die reiche Stadt, wie sie sich unter mir ausbreitete, und fühlte stärker als je zuvor, dass wir alle nur Gefangene dessen sind, was wir «historische Erfahrung» nennen, Blätter in unruhigem Wind, unfähig, auf irgendetwas Einfluss zu nehmen, sich selbst oder anderen zu helfen, die eigene schlechte Umgebung zu ändern, rechtlos, unfrei und – genau wie mein armer verstorbener Grossvater, der es nie schaffte, vollkommen Herr seines eigenen Schicksals zu werden – lebenslang infiziert mit dem Virus einer unheilbaren Krankheit, der Gefangenitis.

Aus dem Serbischen übersetzt von Jan Dutoit.

Vladimir Arsenijevic nahm im September
mit der Kroatin Ivana Sajko und dem Bosnier Nenad Velickovic am WOZ-Gespräch zum 
Thema Literatur aus Ex-Jugoslawien teil
 (siehe WOZ Nr. 37/11).