Belagerter Gazastreifen: Eine friedliche Flotte gegen die Blockade

Nr. 35 –

Noch ein Versuch: Dutzende Schiffe sollen Hilfsgüter nach Gaza transportieren. Ein Koordinator der internationalen Aktion ist ein Arzt aus dem Wallis.

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Hicham El Ghaoui gibt in diesen Tagen viele Interviews. Mit seiner Organisation Waves of Freedom hat der 42-jährige Arzt aus dem Walliser Tourismusort Verbier fünf Segelboote gekauft, die am 5. September vom sizilianischen Catania aus in See stechen und Milchpulver und Wasserfilter in den Gazastreifen transportieren sollen. Die fünf Boote, die Namen wie «Heidi», «Tell» und «Henry Dunant» tragen, sind Teil einer internationalen Flotte, bestehend aus Dutzenden Schiffen, die die israelische Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen und der palästinensischen Bevölkerung dringend benötigte Hilfsgüter zustellen sollen.

Einreise verweigert

Den Gazastreifen kennt Hicham El Ghaoui gut. Drei medizinische Hilfseinsätze hat er letztes Jahr dort absolviert. «Als ich zum ersten Mal in einer Notaufnahme stand, wurde gleich ein Baby mit schwersten Verbrennungen zu uns gebracht, alle weinten, und ich realisierte: Jetzt bin ich in Gaza.» Die Erinnerung an die Kinder, die in seinen Händen gestorben seien, würden ihn wohl nie mehr loslassen, sagt er.

El Ghaoui hat über seine drei Hilfseinsätze vom vergangenen Jahr in den Westschweizer Medien berichtet. «Vom Paradies in Verbier in die Hölle von Gaza», titelte «24 heures». Israel würde ihm deshalb inzwischen die Einreise nicht mehr erlauben, erzählt er.

Umso mehr Arbeit leistet er von ausserhalb. Man müsse Druck auf die europäischen Regierungen ausüben: «Es genügt nicht zu sagen, man wolle Palästina als Staat anerkennen, wenn davon bald nur noch ein Friedhof übrig ist.» El Ghaoui zählte bereits zu den Organisator:innen des «Global March to Gaza» vom Juni. Tausende hatten sich bereit erklärt, mehrere Tage lang zu Fuss vom ägyptischen al-Arisch zur Grenze des Gazastreifens zu laufen. Die ägyptischen Behörden erklärten den Marsch allerdings für illegal. Sie liessen die Teilnehmer:innen entweder gar nicht erst ins Land einreisen oder wiesen sie wieder aus.

«Wenn es nicht auf dem Landweg geht, dann halt über das Wasser», habe man sich daraufhin gesagt, erzählt El Ghaoui. In den vergangenen Wochen ist nun die international koordinierte Flotte mit dem Namen «Global Sumud Flotilla» entstanden. Beteiligt sind nicht nur Delegationen aus Europa und dem Nahen Osten, sondern etwa auch aus Südafrika, Malaysia oder den Philippinen. Finanziert wird das Vorhaben durch Crowdfundings. «Unsere Bemühungen bauen auf Jahrzehnte palästinischen Widerstands und internationaler Solidarität auf», heisst es auf der Website der Gruppe. Man gehöre zwar verschiedenen Glaubensrichtungen an und vertrete unterschiedliche politische Überzeugungen, doch sei man sich einig darüber, «dass die Belagerung und der Genozid enden müssen».

«Aus der Schweiz fahren auch Journalistinnen, Anwälte, Menschenrechtlerinnen und Politiker mit», sagt El Ghaoui. Eine Teilnehmer:innenliste werde zu gegebener Zeit veröffentlicht. «Wir wollen viel Lärm machen», sagt er, «das Schweigen tötet.» Die Schweizer Regierung hätten sie offiziell um Unterstützung gebeten, eine Antwort sei bislang aber ausgeblieben. «Dabei müsste sie uns eigentlich beschützen», sagt El Ghaoui. «Es ist legal, Hilfsgüter auf internationalen Gewässern zu transportieren.» Illegal sei dagegen die Blockade des Gazastreifens. El Ghaoui betont, dass die Teilnehmer:innen sich friedlich verhalten und jeder Konfrontation aus dem Weg gehen würden. Die Schiffe sollen nicht in israelische Gewässer eindringen.

Alles wird trainiert

Israel hat bislang alles unternommen, um auf dem Seeweg transportierte Hilfslieferungen der Zivilgesellschaft in den Gazastreifen zu unterbinden. Anfang Mai etwa attackierten mutmasslich israelische Drohnen den Bug der «Conscience», die von Malta aus den Gazastreifen erreichen sollte. Das Schiff fing Feuer. Zwar gelang es der Besatzung, den Brand zu löschen, die Mission musste sie trotzdem abbrechen. Im Juni stoppten Marinesoldaten die «Madleen» in internationalen Gewässern. Sie verhafteten die Crew und brachten sie nach Israel, auch die beteiligte Klimaaktivistin Greta Thunberg. Bereits 2010 hatten israelische Soldat:innen die «Mavi Marmara» mit Hunderten Passagieren an Bord geentert. Auch sie hätte humanitäre Güter nach Gaza bringen sollen. Einige der Passagiere haben sich gegen diesen Angriff gewehrt, neun Menschen wurden getötet, Dutzende weitere schwer verletzt.

Das dürfe sich nicht wiederholen, sagt El Ghaoui. Allein in der Schweiz hätten sich 600 Freiwillige gemeldet. In einem mehrstufigen Selektionsverfahren seien 44 ausgewählt worden. «Wir haben sichergestellt, dass nur Leute mit an Bord kommen, die bereit sind, ihren richtigen Namen anzugeben, die zu hundert Prozent gewaltfrei sind – und mit unserer Strategie und unseren Zielen einverstanden sind.» Mit Trainings bereite man die Passagiere darauf vor, sich nach Plan zu verhalten.

El Ghaoui hält es für möglich, dass die Lieferung dieses Mal klappt. «Ich will nicht, dass meine Kinder in einer Welt leben, in der keine Gesetze mehr gelten», sagt der Vater von drei Töchtern. «Das Töten muss aufhören.»