Hunger in Gaza: Das schlimmste Szenario

Nr. 32 –

Der jüngste IPC-Bericht schlägt Alarm: Die Hungersnot im Gazastreifen spitzt sich weiter zu, und die wieder aufgenommenen Hilfslieferungen ändern bisher wenig daran. Dohaa Musleh, eine junge Mutter aus Gaza-Stadt, schildert die unerträgliche Situation.

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Menschen rennen in Deir Al-Balah Fallschirmen mit Hilfsgütern entgegen
Menschen rennen in Deir Al-Balah Fallschirmen mit Hilfsgütern entgegen. Foto: Abdel Kareem Hana, Keystone

Vor etwa zwei Wochen, es ist Mitte Juli, sitzt Dohaa Musleh in einem Zelt in Gaza-Stadt. In ihrem Arm hält sie ihren Sohn Adnan, ein Jahr alt. In ihrem Bauch wächst das zweite Kind heran, sie ist im fünften Monat schwanger. Für Adnan, erzählt sie, finde sie nicht genug Babymilchpulver und altersgerechte Nahrung. Und um das Kind in ihrem Bauch mitzuversorgen, reiche ihre eigene Ernährung kaum aus. «Unsere Situation ist unerträglich», sagt sie.

So wie Dohaa Musleh und ihr Sohn leiden derzeit die meisten Menschen im Gazastreifen: Seit Mitte März hatte Israel keine Genehmigungen mehr für den Transport von Hilfsgütern in den Gazastreifen erteilt. Die Zahl der gelieferten Güter sank laut der zuständigen israelischen Behörde Cogat für die Monate März und April auf null. Erst ab dem 19. Mai durften überhaupt wieder Lastwagen passieren, jedoch in deutlich geringerer Zahl als je zuvor. So wurden laut Cogat im Mai etwa 20 000 Tonnen, im Juni etwa 38 000, im Juli etwa 43 000 Tonnen geliefert, der Grossteil davon Nahrungsmittel. Im Gazastreifen leben gut zwei Millionen Menschen. Laut Berechnung des Welternährungsprogramms wären mindestens 60 000 Tonnen im Monat nötig, um die Gesamtbevölkerung ausreichend zu versorgen.

Ebenfalls Ende Mai begann die von Israel unterstützte Gaza Humanitarian Foundation mit der Verteilung von Hilfsgütern – jedoch unter grosser Kritik. Auch, weil immer wieder Menschen nahe der Verteilzentren erschossen werden. Über tausend sollen so laut den Vereinten Nationen getötet worden sein, die meisten durch die israelische Armee.

Die Entscheidung, die Hilfslieferungen zu blockieren, begründete Israels Premier Benjamin Netanjahu im März damit, die Hamas kapere die Lieferungen. Diese Möglichkeit zur Bereicherung wolle man ihr nehmen. Doch diese Entscheidung betrifft zwei Millionen Menschen, die Mehrheit Zivilistinnen und Zivilisten – mit fatalen existenziellen Folgen: Laut der international anerkannten IPC-Skala, die Ernährungssicherheit misst, ereignet sich im Gazastreifen derzeit das schlimmste Szenario einer Hungersnot. Die Zahl der Haushalte, in denen extremer Hunger herrsche, habe sich seit Mai verdoppelt, so die IPC-Initiative. Einer von drei Menschen müsse inzwischen teils tagelang ohne Essen auskommen. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation sind allein im Juli 63 Menschen an Mangelernährung gestorben, darunter 25 Kinder.

Lieferung in Kampfgebiete

Vor Beginn der Blockade im März, erzählt Dohaa Musleh, habe sie Milchpulver von verschiedenen Hilfsorganisationen, unter anderem dem Palästinenser:innenhilfswerk UNRWA, erhalten. Doch das endete mit dem Stopp der Lieferungen. Seitdem kaufe sie das Pulver, sagt sie. Die Preise dafür sind hoch: für eine Packung bis zu achtzig Franken.

Musleh gelingt es kaum, das Geld aufzutreiben. Mitte Mai sei ihr Ehemann Wessam getötet worden, erzählt sie, kurz darauf auch Wessams Vater, sein Bruder und sein Onkel. Damit sind alle Männer der Kernfamilie tot – das Einkommen, das sie hereinbrachten, ist versiegt. Von Erspartem auf ihrem Bankkonto, das sie sich mit einer Gebühr von etwa vierzig Prozent in bar auszahlen lassen kann, kaufe sie das Pulver in Apotheken, auf Märkten oder von Strassenhändlern.

Ihr Sohn leide an Verdauungsproblemen, dazu trage auch bei, dass das Milchpulver, das sie finde, immer von wechselnden Marken stamme. Als Einjähriger dürfte Adnan eigentlich bereits Beikost bekommen. Doch es gebe kaum frische Früchte, keine Eier, kein Fleisch und keine Milchprodukte, sagt Musleh. «Wir essen Linsen, Reis, Nudeln.»

Die Schuld an der Misere hatte Israel nach der Wiederaufnahme der Lieferungen auch auf die Vereinten Nationen geschoben, die bereits durchgelassene Hilfslieferungen auf der palästinensischen Seite der Grenze zu Israel nicht abholen würden. Alle Grenzübergänge liegen allerdings in Kampfgebieten. Um sie zu erreichen und die Güter anschliessend an die Bevölkerung zu verteilen, ist eine Koordination mit dem israelischen Militär nötig. Jonathan Whitall, Sprecher der Uno-Behörde OCHA, erklärte dazu jüngst, es sei eine Herausforderung, die Güter abzuholen, «aufgrund der unsicheren Lage, langer Verzögerungen bei der Erteilung der erforderlichen Genehmigungen, der Zuweisung ungeeigneter Transportrouten und der Verzweiflung und der Plünderungen durch die Menschenmenge».

Diebstahl und Chaos

Ende Juli – nach enormem Druck von Hilfsorganisationen und der internationalen Gemeinschaft – liess Israel schliesslich wieder mehr Hilfslieferungen nach Gaza durch. Und erklärte vorerst eine zehnstündige tägliche Waffenruhe in stark besiedelten Gebieten für wirksam. Seitdem haben die Hilfslieferungen über Land deutlich zugenommen, ausserdem werfen verschiedene Staaten – darunter Israel, Ägypten, Deutschland oder die Vereinigten Arabischen Emirate – Paletten mit Lebensmitteln ab.

Trotzdem sagt Dohaa Musleh Anfang August: Sie merke davon nichts. «Es kommt immer noch zu wenig in Gaza an. Und was ankommt, wird gestohlen, bevor es uns erreichen kann.» Das zeigen auch viele Videos, die derzeit in den sozialen Medien kursieren, deren Herkunft sich aber oft nicht unabhängig bestätigen lässt. So etwa auf dem Instagram-Account von «Chef Hamada», der in Gaza-Stadt ein Restaurant betreibt; es blieb während des Krieges, auch während der Nahrungsmittelkrise ab März, geöffnet. In seiner Story teilte er ein Video, das zeigt, wie Männer neben einem Lastwagen, augenscheinlich beladen mit Hilfsgütern, Mehlsäcke ausschütten. Und die leeren Säcke nutzen, um andere Produkte abzutransportieren. «Möge Gott sie zur Rechenschaft ziehen», schreibt er dazu.

Die Vereinten Nationen erheben Daten, die diesen Eindruck bestätigen: Seit dem 19. Mai, als Israel wieder Lieferungen passieren liess, wurden insgesamt knapp 40 000 Tonnen Güter in den Gazastreifen gebracht: Rund 27 400 Tonnen davon wurden von etwa 2000 Lastwagen in Gaza abgeholt, um sie zu Verteilstellen zu bringen. Doch nur 260 von ihnen erreichten ihr Ziel. Die anderen über 1700 Lastwagen, mit über 23 000 Tonnen Ladung, wurden unterwegs abgefangen. Wie die Uno schreibt: «Entweder friedlich durch hungernde Menschen oder mit Gewalt durch bewaffnete Gruppen».

Um dem Kapern von Hilfslieferungen entgegenzuwirken, sollte die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) in ihren Verteilzentren mit einer Namensliste kontrollieren, wer Hilfsgüter erhält – so der Plan. Doch von Beginn an liefen die Verteilungen dort völlig chaotisch ab. Ein Teil der GHF-Güter landet zu hohen Preisen auf Märkten: ein Kilo Zucker für fast 60 Franken, ein Kilo Mehl für etwa 22 Franken. Netanjahus Entscheidung, die Hilfslieferungen temporär zu blockieren, hat letztlich nicht nur zu einem dramatischen Anstieg des Hungers geführt, sondern auch zu einer anhaltend chaotischen Lage, in der Kriminelle die Bevölkerung ausnehmen.

Fehlgeburt erlitten

Dohaa Musleh erzählt, wie sie auch weiterhin kaum Milchpulver für ihren Sohn findet. Bilder in den sozialen Medien zeigen Dosen, angeblich aus neuen Hilfslieferungen stammend, zum Verkauf. «Skandalös» nennt Musleh die Preise. Auch für sich selbst müsse sie weiterhin alle Nahrung für viel Geld einkaufen. Manchmal brächten Verwandte ihr und der Schwiegermutter etwas vorbei.

Vor etwa einer Woche, erzählt sie, habe sie eine Fehlgeburt erlitten. Alles, was ihr nun von ihrem getöteten Ehemann bleibt, ist der einjährige Adnan. «Er verliert jeden Tag an Gewicht», sagt sie.