«Bloquons tout»: Showdown an der Seine
Wieder einmal steht in Frankreich eine Regierung vor dem Aus – und ein Generalstreik vor der Tür.

Vertrauen und Verantwortung oder Neuwahlen und Chaos? Glaubt man Frankreichs Premierminister François Bayrou, entscheiden die Abgeordneten der Nationalversammlung am kommenden Montag darüber, ob sie Frankreich vor dem Untergang retten – oder an die Wand fahren. Als wäre das Chaos nicht längst schon Realität.
Bayrou warnt, beschwört, appelliert und bettelt. Das Land befinde sich aufgrund der Überschuldung in einer «nationalen Notlage», 44 Milliarden Euro müssten eingespart werden – etwa mit der Abschaffung zweier Feiertage sowie der Einfrierung von Sozialleistungen und Renten, die üblicherweise der Inflation angepasst werden.
Nicht verwunderlich also, dass die Opposition rebelliert und ihn stürzen will. Die Abstimmung über die Vertrauensfrage bietet ihnen nun die Gelegenheit dazu. Sollte er die Abstimmung dagegen gewinnen, könnte er, basierend auf Verfassungsartikel 49.3, den neuen Haushalt per Dekret anordnen, wobei schon Bayrous Vorgänger Michel Barnier letzten Dezember nach nur drei Monaten im Amt an seinen Sparplänen gescheitert war.
Parteien fühlen sich betrogen
Den andauernden Regierungskrisen in Frankreich liegt allerdings ein viel grösseres, Problem zugrunde. Emmanuel Macron steht vor den Ruinen seines politischen Projekts. Er hatte sich auf die Fahne geschrieben, die politische Rechts-links-Dichotomie, die Frankreichs Fünfte Republik jahrzehntelang prägte, zu durchbrechen. In der politischen Mitte sei das Heil zu suchen, dort, wo angeblich der Verstand regiert und nicht die Ideologie. Seine Politik, seine Reformvorhaben seien alternativlos, behauptete der Präsident.
Jetzt, nach acht Jahren Macronismus, in denen der Präsident versucht hat, Frankreich wie ein Start-up aufzumöbeln, steht das Land vor der Unregierbarkeit. Die traditionellen Parteien haben ihre Dominanz verloren, im Parlament sind heute drei Blöcke etwa gleich stark – und unversöhnlich.
Eigentlich hatte Macron, als er im Sommer 2024 das Parlament auflöste und Neuwahlen ansetzte, auf einen Befreiungsschlag gehofft. Doch überraschenderweise siegte das neu gegründete Linksbündnis Le Nouveau Front populaire (NFP) aus Kommunist:innen, Grünen, Sozialist:innen und der Linkspartei La France insoumise (LFI) – das sich später um den Wahlsieg betrogen fühlte, weil Macron keine:n Premierminister:in aus dessen Reihen ernannte. Ebenso betrogen fühlte sich die rechtsextreme Partei Rassemblement National von Marine Le Pen, weil sie, gemessen an den abgegebenen Stimmen, längst die stärkste Partei ist und bislang nur das Mehrheitswahlrecht ihre Machtübernahme verhinderte.
In dieser angespannten Lage mussten die Regierungschefs aus dem Lager der Zentristen, erst Michel Barnier und nun François Bayrou, in den letzten Monaten einen absurden Drahtseilakt hinlegen und für jede Gesetzesvorlage um Stimmen von rechts aussen und/oder links werben. Eine kohärente, langfristige, gar visionäre Regierungspolitik war folglich undenkbar. Eine grundlegende und dringend nötige Reform der Verfassung und des Wahlrechts, kurzum eine neue, sechste Republik, wie sie zum Beispiel LFI-Gründer Jean-Luc Mélenchon fordert, liegt in weiter Ferne.
Held für einen Tag?
Diese Woche hat François Bayrou alle Parteien zu Gesprächen eingeladen, um für seine Sparvorschläge und das Fortbestehen seiner Regierung zu werben. Bislang halten alle Oppositionsparteien an ihrem Nein fest. LFI und Grüne haben die Einladung ausgeschlagen. Einzig die Sozialist:innen könnten kippen. Schon in der Vergangenheit sind sie einige Male von der NFP-Linie abgewichen. Um ihre Gunst wird sich Bayrou also besonders bemühen. Würden sie ihn tatsächlich stützen, wäre die neu gewonnene Einigkeit auf linker Seite passé – und damit auch die Chance, in Zukunft wieder mehrheits- und regierungsfähig zu werden.
Gegen Bayrous Sparpläne, gegen die aktuelle Regierung und gegen Emmanuel Macron hat sich längst auch jenseits des Parlaments Widerstand formiert. Für den Mittwoch, 10. September, haben zahlreiche Akteure, Gewerkschaften, Vereine, aber auch neue, noch lose Gruppen dazu aufgerufen, das Land unter dem Motto «Bloquons tout» (Alles blockieren) lahmzulegen – unabhängig vom Ausgang der Vertrauensabstimmung. In diesen Tagen finden im ganzen Land spontan organisierte Vorbereitungstreffen statt, an denen auch über unkonventionelle Protestformen ähnlich denen der Gelbwestenbewegung 2018/19 diskutiert wird, etwa das Spazieren auf der Autobahn. Ein Wunsch nach der Rückkehr zur Graswurzeldemokratie, so scheint es.
Glüht sie noch, die Leidenschaft der Gilets jaunes? Und welchem politischen Lager könnte es gelingen, diesen Moment des Aufbegehrens für sich zu nutzen?
Klar ist: Sollte François Bayrou mit seinem Pokerspiel durchkommen, weil am Montag in allerletzter Minute überraschenderweise doch eine Parlamentsmehrheit für ihn stimmt, dann würde er tatsächlich als grosser Held dastehen. Allerdings nur für einen Tag. Denn danach spielt die Musik auf der Strasse. Und da kann es in Frankreich bekanntlich sehr laut werden.