Gazakrieg: «Lasst uns unsere Arbeit machen!»

Nr. 19 –

Der französische Notfallpfleger Rénald Ménard ist für Médecins Sans Frontières (MSF) in Gaza im Einsatz. Nach zwei Monaten der israelischen Blockade sei die Situation dort schlimmer denn je.

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Frauen mit Kindern in der Klinik für unterernährte Kinder im Nasser-Spital in Chan Junis
«Von den unzähligen Mängeln am stärksten betroffen sind Kinder und Frauen»: Klinik für unterernährte Kinder im Nasser-Spital in Chan Junis. Foto: Abdel Kareem Hana, Keystone

WOZ: Herr Ménard, es ist jetzt Montagabend um 18.30 Uhr. Wo genau im Gazastreifen befinden Sie sich, während wir dieses Gespräch führen?

Rénald Ménard: In der Al-Mawasi-Zone, an der Küste im Süden des Gazastreifens. Wir sind hier in einem «deconflicted house» untergebracht. Das heisst, die genauen Koordinaten des Hauses und unsere Nutzung sind der israelischen Armee bekannt. Sicher ist das Haus trotzdem nicht. Es könnte durch in Nachbarhäuser einschlagende Bomben ebenfalls zerstört werden. Es gibt derzeit im Gazastreifen keinen Ort mehr, der Sicherheit bietet. Das muss ich hier klarstellen: keinen.

WOZ: Wie beeinträchtigt die gefährliche Lage Ihre Arbeit vor Ort?

Rénald Ménard: Ich bin nun zum dritten Mal seit Beginn der israelischen Angriffe in Gaza im Einsatz. Nie zuvor habe ich mich so wenig bewegen können wie jetzt gerade. Es ist schlicht zu gefährlich. Ich bin als Nurse Activity Manager im Einsatz; ich koordiniere und organisiere den Pflegebereich in vier verschiedenen Kliniken, die im Verantwortungsbereich von Médecins Sans Frontières liegen. Für meine Arbeit muss ich eigentlich mobil sein und zwischen den verschiedenen Kliniken hin und her wechseln, um jeweils vor Ort den Bedarf an Pflegepersonal und Material zu ermitteln. Durch die Belagerung des Gazastreifens, die Angriffe durch die israelischen Streitkräfte und vor allem auch die Blockade seit Anfang März sind wir gezwungen, unsere Aktivitäten auf ein Minimum zu reduzieren – oder teils ganz einzustellen.

WOZ: Sie können Ihre Funktion zurzeit also gar nicht wirklich erfüllen?

Rénald Ménard: Nur sehr eingeschränkt. Zu einer genau definierten Zeit darf ich einen bestimmten Ort verlassen oder anfahren. Das wird von einem MSF-Logistikteam koordiniert, wobei die Zusage manchmal erst in letzter Sekunde kommt. Dazwischen warte ich. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Ich bin quasi auf Stand-by. Alles andere ist gerade zu gefährlich. Seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 sind in Gaza alleine 11 Mitarbeitende von Médecins Sans Frontières getötet worden und insgesamt über 400 humanitäre Helfer:innen.

Portraitfoto von Rénald Ménard
Rénald Ménard

WOZ: Wenn Sie überhaupt durchkommen, wie ist die Situation in den Kliniken?

Rénald Ménard: Ich muss hier die Informationen weitergeben, die ich vor allem von den medizinischen Notfallteams erhalte, die in den Kliniken arbeiten. Gerade nach Luftangriffen kommen viele teils sehr schwer verletzte Patient:innen gleichzeitig dort an. Dann ist eine Triage nötig: Welche Menschen können wir überhaupt noch retten, und mit welchen Massnahmen? Sind Blutkonserven vorhanden? Medikamente und Verbandsmaterial? Zurzeit mangelt es an allem, angefangen bei Krankenwagen und Diesel. Es fehlt an Ausrüstung und an Medikamenten, teils ist noch nicht einmal Seife oder sauberes Wasser verfügbar. Es müssen Amputationen ohne Schmerzmittel durchgeführt werden, das ist eigentlich unvorstellbar.

WOZ: Wie sieht die Gesundheitsversorgung über Notfallsituationen hinaus aus?

Rénald Ménard: Ein Riesenproblem ist das Wasser. Es gibt viel zu wenig, und das vorhandene ist oft von sehr schlechter Qualität. Die Menschen trinken Wasser, das Durchfall oder Erbrechen verursacht, Wasser, das salzig oder gar mit Polio- oder Hepatitis-A-Viren kontaminiert ist. Viele können sich nicht waschen, von den Kleidern nicht zu reden, was zu Hautkrankheiten führen kann, es grassiert die Krätze. Auch im Bereich der chronischen Krankheiten – bei Bluthochdruck, Diabetes, Epilepsie oder auch bei Asthma und Allergien – ist die Lage gravierend. Aufgrund der Blockade gibt es viel zu wenig Medikamente. Zudem fehlen auch Hausärzt:innen.

WOZ: Neben sauberem Wasser mangelt es gemäss der Uno auch an Nahrungsmitteln. Können Sie dazu etwas sagen?

Rénald Ménard: Auch hier hat die Blockade katastrophale Auswirkungen. Schon zuvor hatten die Menschen im Gazastreifen kein Geld, um sich Essen zu kaufen. Aber es gab Organisationen wie das Uno-Welternährungsprogramm oder die NGO World Central Kitchen, die Mahlzeiten in unseren Kliniken verteilt haben. Beide verfügen mittlerweile kaum noch über Nahrungsmittel. Die Patient:innen in unseren Kliniken erhalten gerade mal noch eine Mahlzeit pro Tag. Dieser zunehmende Mangel an Nahrung macht die Menschen krank, insbesondere Kleinkinder, von denen viele mangelernährt sind. Sie erhalten nur ab und zu etwas Reis oder Brot zu essen. Für ihre Entwicklung und auch, um Krankheiten vorzubeugen oder auszuheilen, bräuchten sie viel mehr Essen und verschiedene Nahrungsmittel. Es fehlt ihnen an allem: an Kohlenhydraten, Proteinen, Fetten oder auch Vitaminen. Es ist ein Teufelskreis. Wenn es keine Nahrung gibt, dauert der Heilungsprozess bei Krankheiten deutlich länger, und die Verläufe sind gravierender.

WOZ: Wie halten Sie diese Zustände eigentlich aus?

Rénald Ménard: Die meisten humanitären Helfer:innen bringen eine gewisse Erfahrung und spezialisierte Fähigkeiten mit. Wir sind sehr auf unsere Arbeit fokussiert, was hilfreich ist, weil wir ein gemeinsames Ziel haben: die Patient:innen zu retten. Es wäre für mich viel frustrierender, nichts zu erreichen. Es ist extrem gefährlich, die Bedingungen sind enorm schwierig und belastend, aber wir schaffen es trotzdem immer wieder, Verletzte zu bergen, zu retten und zu pflegen. Nicht so schnell und so gut, wie wir es gerne hätten, aber wir können helfen. Es ist dieser Fokus, der uns hilft, das mental durchzuhalten.

WOZ: Sie haben vorhin erwähnt, bereits Ihren dritten Einsatz für MSF im Gazastreifen zu absolvieren. Wie sehr unterscheiden sich die Einsätze bezüglich der Gesundheitsversorgung?

Rénald Ménard: Der Unterschied zu meinem letzten Einsatz, als die Lieferung von Gütern nicht blockiert war, ist sehr gross. Unsere drei grösseren Kliniken nehmen aktuell je rund 500 Patient:innen pro Tag auf, die kleinere ungefähr 300. Während der Waffenruhe waren es annähernd doppelt so viele. Unabhängig davon ist das Ausmass der Zerstörung im Gazastreifen mit jedem Einsatz noch heftiger geworden, was einen direkten Einfluss auf die Lebensqualität der Menschen hier hat. Unzählige leben mittlerweile in Zelten, weil die Gebäude zerstört sind. Die Zustände dort sind schrecklich. Die Qualität des Materials nimmt zunehmend ab. Es gibt hier Wind, Regen, unerbittlichen Sonnenschein über eine lange Zeit und viel Staub, der in die Zelte dringt. Hinzu kommt, dass viele Menschen ständig umsiedeln müssen. Es finden täglich Evakuierungen statt.

WOZ: Vor Ihrem jetzigen Einsatz in Gaza waren Sie für Médecins Sans Frontières in Haiti aktiv, das von kriminellen Banden kontrolliert wird. Würden Sie sagen, die Lage dort war ähnlich schlimm, gerade im Bereich der medizinischen Versorgung?

Rénald Ménard: In Haiti, wo ich übrigens als Kind einige Jahre mit meiner Familie gelebt habe, herrscht Chaos, es gibt keine rechtsstaatliche Ordnung. Kriminelle und gewalttätige Banden, die sich an keine Regeln halten, haben das Sagen. Das hat zwangsläufig negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Menschen. Und es gibt umkämpfte Gebiete, die unterversorgt sind. Aber grundsätzlich sind dort Wasser und Nahrungsmittel vorhanden, die Menschen sind nicht dem Hungertod nahe wie jetzt die Bevölkerung von Gaza. Die israelischen Streitkräfte, die in Gaza einen Krieg gegen die Hamas führen, sind eigentlich verpflichtet, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten und die Zivilbevölkerung zu schützen. Diese hat das Recht auf Gesundheit, auf Nahrung und auf Schutz. Doch Israel gewährleistet diese Rechte absolut nicht.

WOZ: Mit verheerenden Folgen, wie sie beschrieben haben …

Rénald Ménard: Ja. Dabei sagen wir immer das Gleiche: Lasst uns unsere Arbeit machen! Lasst die Lieferung von Medikamenten und Lebensmitteln zu, damit die Patient:innen und die Zivilbevölkerung in Gaza wenigstens überleben und nicht langsam sterben. Die am meisten gefährdeten und von den unzähligen Mängeln am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen sind Kinder und Frauen. Sie sind in diesem Krieg die ersten Opfer.