Pop: Rollt die Blöcke rein
Halb Europa geht ökonomisch auf dem Zahnfleisch: Frankreich ist praktisch pleite, Deutschland steht nicht viel besser da. Selbst in ehemals überreichen Gegenden sind die Aussichten düster, in Stuttgart zum Beispiel, woher die Postpunkband mit dem kuriosen Namen Berlin 2.0 stammt. Heissen die vielleicht so, weil der Autometropole bald schon Berliner Verhältnisse drohen, wenn man erst wegen der überwältigenden Konkurrenz aus China vollends verarmt, dafür aber wenigstens sexy ist?
«Kaltental», das neue Album des Quintetts, bietet jedenfalls aus erster Hand Einblicke ins Post-Zeitenwende-Deutschland. Das gilt schon für den von einer räudigen Bassline angetriebenen Opener mit dem programmatischen Titel «Keine Erlösung», in dem Sängerin Elena Wolf ein wenig verzweifelt fragt: «Kommen die Aliens uns jetzt endlich holen?» Nein, das tun sie leider nicht. Stattdessen gilt es, auf die Zähne zu beissen: «Wir stehen alle jetzt zusammen / Damit alles Scheisse bleiben kann», heisst es im Durchhaltesong «AZ!», und das ist ja tatsächlich mehr oder weniger das, was liberale Gürtel-enger-schnallen-Propagandist:innen dieser Tage nicht nur in der Bundesrepublik predigen.
Musikalisch klingen auf dem Album mitunter auch Hardcoreeinflüsse durch, die Texte wiederum sind reich an Referenzen: Das Spektrum des Zitierten reicht von der Kritischen Theorie bis zu aparteren Gewährsleuten wie etwa dem Schlagerbarden Peter Maffay. Trotz allgemeiner Depression ist eben noch nicht alles verloren.
Sehr eindrücklich ist «Salamanderin», ein Lied übers Sich-Abnabeln, «1789» wiederum ist eine Revolutionshymne, an der auch Louis-Auguste Blanqui seine Freude gehabt hätte. Refrain: «Sie haben das Geld und wir die Guillotine / Rollt die Blöcke rein, wir haben nichts mehr zu verlieren». Das ist nicht gerade subtil, verströmt aber im besten Sinne Rio-Reiser-Vibes. Noch viel häufiger sollten solche Parolen in fast schon fürs Hitradio taugliche Stücke gepackt werden.
Live in: Basel Sommercasino, Irrsinn & Deströyers Anniversary, Sa, 13. September 2025, ab 16 Uhr.