Handwerk: Grasbesenwesen

Nr. 38 –

Früher banden Frauen in den Voralpen Besen aus Gras, das sie in Feuchtwiesen sammelten. Zwei Designerinnen dokumentieren die fast verschwundene Tradition – und geben ihre Leidenschaft dafür weiter.

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zwei Hände welche einen Pfeifengrasbesen binden
Kleine Büschel zu einer Kette verknüpfen: Pfeifengrasbesen binden nach Urner Tradition. Foto: Margrit Linder

Was machen all diese Leute im Habkerner Blosmoos? Ein gutes Dutzend sind es, sie wandern scheinbar ziellos über die Feuchtwiese, ziehen da und dort am Gras. Ausflügler:innen auf dem Weg zum Hohgant schauen ihnen verwundert zu.

«Hier in Habkern hat alles begonnen», sagt Schmuckdesignerin Margrit Linder. Vor über dreissig Jahren lebte sie im Berner Oberländer Dorf, ihr Mann arbeitete damals als Pfarrer. In Habkern lernte Linder die Besenbinderin Hedy Zenger kennen, sah bei ihr zum ersten Mal einen «Schmalebäse» aus Blauem Pfeifengras – und war sofort fasziniert von der Schönheit des Objekts. Zenger gehörte zu den Letzten im Dorf, die das Besenbinden noch beherrschten. Linder lernte es von ihr. Später fand sie heraus, dass auch in anderen Regionen, etwa im Kanton Schwyz oder im Toggenburg, noch Frauen lebten, die Grasbesen banden. Sie begann, die Tradition filmisch zu dokumentieren. Diese ist verbunden mit den nördlichen Voralpen, wo viel Regen fällt und es darum viele Feuchtwiesen mit Pfeifengras gibt.

Die Produktdesignerin Flavia Brändle stiess im Toggenburg, wo sie aufgewachsen ist, auf die Grasbesen. Inzwischen leitet sie zusammen mit Linder Kurse im Besenbinden – wie an diesem Tag in Habkern. «Über die Jahre sind immer mehr Besen und Geschichten aus der ganzen Welt zusammengekommen», sagt Brändle. Aus der langjährigen Beschäftigung mit dem Handwerk sind auch ein Buch und eine Ausstellung entstanden: «Im Besengebiet».

Die Hände erinnern sich

Kühe mögen Pfeifengras nicht; es hat lange, harte Stängel. Sie lassen sich aus dem untersten Teil der Pflanze ziehen, ohne dass die Wurzel mitkommt. Die Ernte dauert eine Weile, für einen üblichen Besen braucht es über 300 Halme. In der Habkerner Feuchtwiese springen zwischen den Pflücker:innen überall Heuschrecken auf. «Achtet auf die Blütenstände, in denen Spinnen ihre Nester gebaut haben, und lasst diese Gräser stehen», bittet Linder.

Die kleinen Grasbesen ohne Stiel kamen früher vor allem beim Kochen und Feuern zum Einsatz, um Mehl oder Asche zusammenzuwischen. «Um das Handwerk am Leben zu halten, suchte ich ein Produkt, das heute noch Verwendung findet», erzählt Brändle. Sie verkleinerte einen Schwyzer Grasbesen, den «Ybriger», und verwendete statt Gras die härteren Fasern der Reiswurzel – so wurde eine Abwaschbürste daraus. Man kann sie etwa im Alpinen Museum Bern oder im Gewerbemuseum Winterthur kaufen.

Eine Kursteilnehmerin ist nach Habkern gekommen, weil sie im Gewerbemuseum diese Bürste fand – die Faszination für das Objekt scheint sich auszubreiten. Eine internationale Gruppe hat sich zusammengefunden, darunter ein deutscher Turnschuhentwickler, eine Schweizer Handweberin und ein japanischer Designer, der von ähnlichen Besen in Ghana, Fidschi und im Londoner British Museum erzählt: «Wenn ihr anfangt, diese Besen zu binden, werdet ihr Teil einer weltweiten Tradition.»

Nach dem Mittagspicknick zeigen Brändle und Linder zwei ganz verschiedene Bindetechniken. In der Habkerner Tradition beginnt man mit einem Bündel von 300 oder mehr Halmen, verdreht einzelne Büschel ineinander und arbeitet von aussen nach innen, bis der Besen einen geflochtenen «Kopf» hat. Für Urner Besen werden hingegen kleine Büschel zu einer Art Kette geflochten. Auch Hedy Zenger, inzwischen 86, sitzt dabei, gibt Tipps und korrigiert Anfänger:innenfehler. Nach der ersten Überforderung sind viele von der Arbeit begeistert. «Mit der Zeit erinnern sich die Hände», sagt eine Teilnehmerin zufrieden.

Wo ist der Wert?

«Als unscheinbare, von Frauen gemachte Gebrauchsgegenstände fristen die Grashandbesen meist ein unbeachtetes Dasein und verschwinden allmählich aus den Häusern und den Erinnerungen», schreibt Linder im schön gestalteten Buch. Es dokumentiert die Schweizer Grasbesenherstellung, aber auch ähnliche Traditionen von Oaxaca bis Zypern; es geht der Rolle des Besens in Sagen und Magie nach, erklärt die Botanik der Pfeifengraswiese und beschreibt neue Anwendungen von Riedgras als Bau- und Dämmmaterial. Und es zeigt die Schönheit der Grasbesen von vier Kontinenten.

Früher hatte Pfeifengras für Bäuer:innen einen Wert: nicht nur für Besen, auch als Einstreu für den Stall. Heute bringen die Feuchtwiesen zwar Direktzahlungen, aber keinen nutzbaren Ertrag mehr. Daran werden auch ein paar motivierte neue Besenbinder:innen nichts ändern. Wo diese Wiesen nicht unter Schutz stehen, wurden sie meist zerstört – mit Entwässerungsrohren und Gülle. So stellen sich rund um das «Besengebiet» auch Fragen über den Zusammenhang von Handarbeit und Ökosystemen, Handwerk und Wert. Schon für Hedy Zenger trug das Besenbinden kaum zum Einkommen bei, und Flavia Brändle lässt ihre Abwaschbürsten inzwischen in Rumänien binden. Kann Handarbeit hierzulande nur Hobby sein – oder Luxusproduktion?

Nach dem Tag in den Habkerner Pfeifengraswiesen bleibt eine Sehnsucht zurück: im Kollektiv mit den Händen zu arbeiten und das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie könnte durchaus politisch sein.

Buchcover von «Im Besengebiet»
Flavia Brändle, Margrit Linder: «Im Besengebiet». Christoph Merian Verlag. Basel 2025. 320 Seiten. Die Ausstellung im Schweizer Strohmuseum Wohlen AG läuft bis 1. März 2026.