Klimaerhitzung: Planet auf der Intensivstation

Nr. 41 –

Ob – und falls ja, wann – ein Klimasystem kippt, lässt sich mit Modellen kaum vorhersagen. Der theoretische Physiker Niklas Boers zeigt jetzt aber mithilfe von empirischen Daten, dass mehrere dieser Systeme auf einen Kipppunkt zusteuern.

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Kahlschlag im Yasuni-Regenwald im Nordosten Ecuadors
«Beim Amazonasregenwald ist der Kippprozess irreversibel – ein Zurück zum ursprünglichen Zustand gibt es nicht»: Kahlschlag im Yasuni-Regenwald im Nordosten Ecuadors. Foto: Erin Schaff, Laif

WOZ: Niklas Boers, die Klimaerhitzung ist aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten, in Deutschland hat sogar der Verbrennungsmotor wieder Auftrieb. Nun zeigt Ihre neue Studie, dass sich gleich vier zentrale Klimasysteme destabilisieren. Hat sie das Potenzial, die drohende Klimakatastrophe wieder auf die politische Agenda zu setzen?

Niklas Boers: Ich hoffe natürlich, dass sie zumindest dazu beiträgt. Sie ist ja ein Review ganz vieler Studien, und deren empirische Daten weisen alle in dieselbe Richtung: Die vier grossen Klimasysteme, die wir untersucht haben – der Grönlandeisschild, die Umwälzzirkulation im Atlantik, der Amazonasregenwald und das südamerikanische Monsunsystem –, bewegen sich alle auf einen Kipppunkt zu. Und mit jedem Zehntelgrad Erwärmung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Systeme kippen.

WOZ: Wie muss man sich dieses Kippen vorstellen – und was wären die Folgen?

Niklas Boers: Beim Regenwald im Amazonas ist das ganz anschaulich: Die enorme Transpiration der Bäume sorgt in der Atmosphäre über dem tropischen südamerikanischen Kontinent für viel Feuchtigkeit. Holzt man den Wald weiter ab und degradiert er weiter infolge von durch den Klimawandel verursachten Dürren, dann bricht irgendwann der Wasserkreislauf ab, der zusammen mit der Feuchtigkeit, die vom Atlantik her kommt, für Regen über dem Kontinent sorgt, und die Atmosphäre trocknet aus. Der Regen bleibt aus, der restliche Tropenwald verschwindet …

WOZ: … und mit ihm eine der wichtigsten CO₂-Senken der Erde, was die Klimaerhitzung weiter befeuern würde.

Niklas Boers: Genau. Und im Fall des Amazonasregenwaldes ist der Kippprozess auch nicht reversibel; ein Zurück zum ursprünglichen Zustand gibt es nicht.

Der Klimawissenschaftler

Niklas Boers (42) setzt sich an der Technischen Universität München und am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung mit theoretischen Fragen der Erdsystemwissenschaften auseinander. Er ist auf die Erforschung von Kipppunkten spezialisiert.

 

Portraitfoto von Niklas Boers

WOZ: Sind Kippprozesse immer irreversibel?

Niklas Boers: Je nach Zeitskala nicht zwingend, nein. Beim Grönlandeisschild etwa ist der Prozess viel langsamer und erstreckt sich über mehrere Hundert Jahre. Wenn wir es, sagen wir, innerhalb der nächsten 200 Jahre schaffen, die Temperaturen wieder unter den kritischen Grenzwert zurückzuholen, dann hätten wir tatsächlich noch ein Zeitfenster, um sein vollständiges Kippen – also das Abschmelzen des Eisschilds – zu verhindern. Kippt das System indes ganz, gibt es kein Zurück mehr.

WOZ: Das Gefährliche an klimatischen Kipppunkten ist ja, dass man die Schwelle vielleicht noch nicht präzise fassen, umgekehrt aber eine scheinbar kleine Veränderung oder Störung genügen kann, um sie zu überschreiten. Was bedeutet das konkret?

Niklas Boers: Leider ist es genau so: Die Atlantikzirkulation etwa ist unter Umständen bereits im Prozess des Kippens – was wir erst mal gar nicht mitbekommen. Wir haben weder Methoden noch Modelle, die uns das sicher sagen könnten. Überhaupt, wenn wir von «Kippen» sprechen, dann sind damit nicht unbedingt zeitlich abrupte Übergänge gemeint, das passiert nicht von heute auf morgen.

WOZ: Von welchen Zeitdimensionen sprechen wir: Könnte sich das in wenigen Jahren oder Jahrzehnten abspielen?

Niklas Boers: Bis die Atlantikzirkulation abbricht, würde es vielleicht fünfzig bis hundert Jahre dauern – verglichen mit den Zeitskalen, auf denen dieses Klimasystem funktioniert, ist das trotzdem abrupt. Im Fall des Amazonasregenwalds ginge es schneller, da ist ein Kippen in wenigen Jahrzehnten denkbar, beim Monsunsystem womöglich sogar binnen Jahren.

WOZ: Hinzu kommt, dass diese vier Klimasysteme miteinander verbunden sind, sich also wechselseitig beeinflussen. Wird damit ein Klimakollaps zum realen Szenario?

Niklas Boers: Das einfache Bild mit den Dominosteinen, die einer nach dem andern kippen, wenn der erste es tut, stimmt so sicher nicht. Denn es gibt nicht nur destabilisierende, sondern auch stabilisierende Effekte.

WOZ: In Ihrer Studie schreiben Sie von stabilisierenden Koppelungseffekten – können Sie ein Beispiel dafür geben?

Niklas Boers: Wenn sich die atlantische Zirkulation, bei der kaltes Salzwasser im Nordatlantik absinkt und so warmes Wasser aus den Tropen anzieht, weiter abschwächt – und das wird sie in den nächsten Jahrzehnten definitiv tun –, dann wird sich die nördliche Hemisphäre abkühlen. Und das ist für den Grönlandeisschild erst einmal gut. Er wird zwar trotzdem weiter schmelzen, aber langsamer, was unser Zeitfenster vergrössern würde.

WOZ: Aber die Tendenz, dass sich alle vier Systeme destabilisieren, ist laut Ihren Resultaten eindeutig. Bislang ist das besonders im Fall der Atlantikzirkulation wissenschaftlich kontrovers diskutiert worden. Was macht Sie so sicher?

Niklas Boers: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Es gab 2023 tatsächlich eine Studie, die behauptete, vorhersagen zu können, wann die Umwälzzirkulation im Atlantik kippen wird. Und das kann man wissenschaftlich seriös nicht tun, weil die Unsicherheiten viel zu gross sind. Den Zeitpunkt für ein Kippen können wir für keines dieser Systeme voraussehen. Denn die komplexen, nichtlinearen Prozesse, die dafür entscheidend sind, können mit Klimamodellen nicht gut simuliert werden. Deshalb haben wir einen andern methodischen Zugang gewählt: Wir haben Beobachtungsdaten aus der Vergangenheit gesammelt, die es zu diesen vier Klimasystemen gibt, und sie mit mathematischen Methoden der theoretischen Physik dynamischer Systeme untersucht, die sich mit statistischem Rauschen befassen. Wir haben diese Methoden so weiterentwickelt, dass sie auf empirische Klimadaten, bei denen Systeme natürlichen Wetterschwankungen ausgesetzt sind, anwendbar sind.

WOZ: Wonach haben Sie in den Daten gesucht?

Niklas Boers: Im Wesentlichen wollten wir herausfinden, wie gross die Resilienz dieser Systeme ist – wie gut sie sich von externen Störungen erholen können. Wir haben uns die natürlichen, wetterbedingten Schwankungen angeschaut und daraus berechnet, wie gross die Stabilität der vier Klimasysteme ist. Denn jedes einzelne von ihnen gilt als «too big to fail».

WOZ: Wie meinen Sie das?

Niklas Boers: Unser Planet würde das natürlich überleben, aber unsere Gesellschaft nicht unbedingt. Deshalb ist es so wichtig, das Risiko genauer zu kennen. Und da zeigen unsere Berechnungen alle in dieselbe Richtung: Die Stabilität der vier Systeme hat über die Zeit abgenommen.

WOZ: Und trotzdem schreiben Sie in Ihrer Studie, dass die komplexen Interaktionen zwischen einem abschmelzenden Grönlandeisschild, einer schwächer werdenden Atlantikzirkulation, sich verändernden Niederschlägen auf der Südhalbkugel und einem Versteppen des Amazonasregenwaldes auch zu irreleitenden Signalen führen können. Relativiert das Ihr Resultat?

Niklas Boers: Nein, aber der Punkt ist wichtig: Wie erwähnt sind die vier Systeme untereinander gekoppelt, es gibt also komplexe Wechselwirkungen zwischen ihnen. Und das kann dazu führen, dass ein Warnsignal, das wir in einem der Systeme messen, gar nicht von diesem selbst kommt, sondern sozusagen aus der Dynamik eines andern Systems vererbt ist. Wir haben uns deshalb die Unsicherheiten in den Daten und Berechnungen sehr genau angeschaut und sie konsequent mitberücksichtigt. Das Ergebnis bleibt auch unter Berücksichtigung der Kopplungseffekte dasselbe: Alle vier Systeme destabilisieren sich.

WOZ: Sie fordern ein globales Überwachungssystem für die sich destabilisierenden Klimasysteme. Wie muss man sich das vorstellen?

Niklas Boers: Mit einem solchen Monitoringsystem könnten wir mehr oder weniger in Echtzeit potenzielle Kippelemente im Auge behalten. Im Prinzip kann man das vergleichen mit einem Menschen, der multiple Krankheitsanzeichen hat: Irgendwann verlagert man ihn auf die Intensivstation und hängt ihn an Messgeräte, um zu kontrollieren, wie es ihm geht. Ich würde sagen: In diesem Zustand ist der Planet Erde. Und die Hoffnung ist natürlich, dass wir mithilfe des Monitorings mehr Daten sammeln, auswerten und nutzen können, um bessere Vorhersagemodelle zu entwickeln – und so irgendwann genug starke Argumente beisammen haben, damit auch die Politik endlich begreift, dass wir so nicht mehr weitermachen können.