Opposition in der Türkei: «Wir erleben täglich politische Willkür»

Nr. 42 –

Ayşe Serra Bucak ist Kobürgermeisterin der kurdischen Metropole Diyarbakır. Die Politikerin der DEM-Partei unterstützt ihre inhaftierten politischen Widersacher – aus Solidarität.

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Portraitfoto von Ayşe Serra Bucak
Ayşe Serra Bucak Foto: Mehmet Masum Suer, Imago

WOZ: Frau Bucak, am 20. Oktober wird möglicherweise ein erstes Urteil im Fall von Ekrem İmamoğlu, dem inhaftierten ehemaligen Bürgermeister von Istanbul, gesprochen. Es geht unter anderem um die Frage, ob sein Universitätsdiplom eine Fälschung sei. Wie bewerten Sie dieses und die anderen Justizverfahren gegen İmamoğlu?

Ayşe Serra Bucak: Ayşe Serra Bucak: Die Verfahren gegen Oppositionspolitiker:innen, auch gegen İmamoğlu, sind eindeutig politisch motiviert. In einem Rechtsstaat dürfte sich İmamoğlu in Freiheit gegen die zahlreichen Vorwürfe verteidigen. Doch in der Türkei gilt die Unschuldsvermutung längst nicht mehr. Ein Vorwurf reicht, um im Gefängnis zu landen. Solch eine politische Willkür erleben wir täglich in unserem Land, und wir Kurd:innen kennen das seit Jahrzehnten.

WOZ: Ekrem İmamoğlu von der sozialdemokratischen CHP ist der stärkste Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Wenn ihm das Universitätsdiplom tatsächlich aberkannt wird, dürfte er nicht mehr bei der für 2028 geplanten Präsidentenwahl antreten …

Ayşe Serra Bucak: Wir wünschen uns faire Verfahren für die Tausenden politischen Gefangenen in unserem Land. Wir brauchen endlich ein unabhängiges Justizsystem. Aber Erdoğan will keine Veränderung, er will an der Macht bleiben. Aus diesem Grund sind gerechte Verfahren, aber auch faire Abstimmungen nicht möglich. Bereits die letzten Präsidentschafts- und Kommunalwahlen 2023 und 2024 waren alles andere als fair – sie wurden manipuliert und fanden in einer Atmosphäre der Angst statt. Das hat zur Folge, dass viele Menschen das Vertrauen in die Wahlurne verloren haben und es müde sind, sich für das Land zu engagieren.

Ayşe Serra Bucak:  

WOZ: 2016 wurde die Immunität der prokurdischen HDP-Parlamentarier:innen aufgehoben. Ihre Partei, die Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM), ist aus der HDP hervorgegangen. Damals haben auch Vertreter:innen der CHP dies unterstützt. Empfinden Sie heute Schadenfreude über die Dutzenden Verfahren gegen CHP-Politiker:innen?

Ayşe Serra Bucak: Nein, ganz im Gegenteil. Es war ein Fehler des damaligen CHP-Chefs Kemal Kılıçdaroğlu, die Aufhebung der Immunität unserer HDP-Abgeordneten zu unterstützen – seitdem sitzen die früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ im Gefängnis. Dutzende prokurdische Bürgermeister:innen wurden wegen angeblicher Nähe zur PKK abgesetzt oder gar inhaftiert.

Ayşe Serra Bucak: Wir Kurd:innen kennen also diesen Druck und wünschen ihn niemandem. Bei den Kommunalwahlen 2019 und 2024 haben wir İmamoğlu und bei den Präsidentschaftswahlen 2023 Kılıçdaroğlu unterstützt. Für uns waren die CHP-Kandidaten damals die überzeugendsten, weil wir Demokratie für die ganze Türkei wollen – nicht nur für die Kurd:innen. Selbst ohne die sogenannte Kurdenfrage hat die Türkei grosse Menschenrechtsprobleme: bei Umweltthemen und bei Frauenrechten.

WOZ: Historisch ist das Verhältnis der von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten CHP zu den Kurd:innen schwierig. Unter anderem trägt die CHP Mitverantwortung für Verbrechen wie die Massaker von Dersim in den Jahren 1937 und 1938, als Zehntausende Kurd:innen ermordet wurden. Warum also dennoch die Unterstützung?

Ayşe Serra Bucak: Als Gründungspartei der Republik trägt die CHP auch Verantwortung dafür, dass die kurdische Identität in der Türkei nie frei gelebt werden konnte. Aber wir können nicht ewig im Gestern leben. Keine Partei unterstützt uns Kurd:innen wirklich. Unser Ziel ist es, dieses Land demokratisch zu gestalten: Wir wollen unsere Sprache frei sprechen und unsere Kultur praktizieren dürfen. Seit hundert Jahren herrscht hier eine Assimilationspolitik. Das muss enden.

WOZ: Als İmamoğlu im März inhaftiert wurde, gab es Massenproteste. Bei der Verhaftung kurdischer Politiker:innen in den vergangenen Jahren blieb das Land still. Enttäuscht Sie das?

Ayşe Serra Bucak: Nein, es überrascht uns nicht. Wenn in der Türkei Menschen für Gerechtigkeit auf die Strasse gehen, sind es fast immer Kurd:innen und Linke. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht organisiert – das ist auch ein Ergebnis von 23 Jahren AKP-Herrschaft.

WOZ: Die DEM verhandelt gleichzeitig mit der AKP und der rechten MHP. Wie passen die undemokratische AKP-Spitze, die Ultranationalist:innen und die linke DEM zusammen?

Ayşe Serra Bucak: Politik bedeutet, mit allen zu reden – auch mit jenen, die uns ablehnen. Wir wollen die Regierungsparteien dazu bewegen, endlich echte Reformen umzusetzen. Wenn wir die Machthaber:innen ignorieren und keine Gespräche mit ihnen führen, können wir auch nichts verändern. Wir können doch nicht warten, dass eine andere Partei die Regierung übernimmt, und dann über die Demokratisierung sprechen. Aus diesem Grund sitzen wir auch mit denen am Tisch, deren konservativer und nationalistischer Ideologie wir misstrauen, und versuchen, sie zu überzeugen. Das ist Politik.

WOZ: Staatspräsident Erdoğan kriminalisiert die Opposition, um seine Macht zu sichern. Lässt sich die DEM nicht auch ein Stück weit instrumentalisieren, indem sie mit seiner AKP spricht und diese gegebenenfalls unterstützt?

Ayşe Serra Bucak: Nein, Kurd:innen lassen sich nicht instrumentalisieren. Als wir den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu 2023 unterstützten, wussten wir genau, warum: Es war ein Votum für die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. İmamoğlu konnte zuletzt nur mit unseren Stimmen Istanbuler Bürgermeister werden. Jede Partei ist auf die Kurd:innen angewiesen. Auch die AKP kann ihr autokratisches Projekt nicht allein durchsetzen. Aber wir werden weiter dagegen ankämpfen.

Ihre Vorgänger:innen wurden abgesetzt, Adnan Mızraklı sitzt seit 2019 im Gefängnis. Mit welchem Gefühl gehen Sie morgens zur Arbeit?

Ayşe Serra Bucak: Natürlich habe ich Bedenken. Aber wer Verantwortung übernimmt, darf nicht in Angst leben. Wir wurden gewählt, um zu handeln. Und das tun wir – wir wollen einen dauerhaften Frieden zwischen allen Menschen in der Türkei.

WOZ: Wie könnte eine gesellschaftliche Versöhnung aussehen?

Ayşe Serra Bucak: Seit dem 27. Februar, als die PKK ihre Auflösung beschloss, erleben wir eine historische Phase. Die PKK hat einen Schritt gemacht. Jetzt ist die Regierung an der Reihe. Es braucht Reformen, juristischen Schutz und letztlich eine Amnestie für die PKK-Mitglieder und -Kämpfer:innen. Wir brauchen eine Versöhnungskommission, die Gerechtigkeit, den Wiederaufbau und ein gesellschaftliches Miteinander ermöglicht. Nicht nur Politiker:innen, sondern auch Soziologen und Psychologinnen sollen mit dabei sein. Viele Familien haben in diesem Konflikt Angehörige verloren. Sie reagieren bei diesen Themen entsprechend sensibel. Aber wir müssen irgendwo anfangen.

WOZ: Sie haben in Köln studiert. Warum sind Sie in Ihre Heimat zurückgekehrt?

Ayşe Serra Bucak: Ich komme aus Siverek im Südosten der Türkei. Kurz vor dem Militärputsch 1980 floh meine Familie nach Istanbul. Mein Vater war Menschenrechtsanwalt. Später lebten wir im Exil in Deutschland, wo ich mit linken Bewegungen in Kontakt stand und mich für die Rechte der Kurd:innen einsetzte. Ich wollte zurückkehren, um in der Türkei weiterzukämpfen.

Ayşe Serra Bucak (49) ist seit 2024 Kobürgermeisterin von Diyarbakır. Sie bekleidet das Amt gemeinsam mit Doğan Hatun.