Mörderisches Grenzregime: Die Verantwortlichen benennen

Nr. 43 –

In Rom protestierte letzte Woche die Flüchtlings- mit der Antimafiabewegung gegen Europas Unterstützung libyscher Milizen. Gleich mehrere EU-Staaten wollen die Zusammenarbeit sogar noch verstärken.

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David Yambio von Refugees in Libya
Auf der «Bühne der Überlebenden» in Rom: David Yambio von Refugees in Libya zusammen mit weiteren Geflüchteten, die in libyschen Lagern eingesperrt waren.

Sie tragen weisse T-Shirts, kreuzen die Unterarme vor der Stirn, die Fäuste geballt, als wollten sie einen Schlag abwehren. Rund fünfzig Geflüchtete stehen am vergangenen Samstag in dieser Haltung auf der Piazza Vidoni in der Innenstadt von Rom, so zeigen es Videoaufnahmen. Die Gruppe Refugees in Libya hat sie aus zehn Ländern in Europa und Nordamerika zur «Bühne der Überlebenden» zusammengebracht. Sie alle waren einst in Libyen in Lagern für Migrant:innen inhaftiert, die sogar deutsche Diplomaten in einem Bericht als «KZ-ähnlich» beschrieben hatten. Es sei eine «Welt der Schande», in der die libyschen Milizen, die die Lager betrieben, von der EU unterstützt würden, sagt der aus dem Sudan stammende Gründer von Refugees in Libya, David Yambio, in einer Rede.

Einer von Yambios Mitstreiter:innen berichtet bei der «Bühne der Überlebenden» im Videogespräch mit einer italienischen Zeitung von den Kontrollen durch die Polizei. Wenn diese in die Zelle gekommen sei, hätten die nackten Gefangenen auf dem Boden liegen müssen, die Wachen seien einfach über sie drübergelaufen. «Alle waren stumm, es war gar nicht zu erkennen, wer noch lebte und wer tot war.»

Vier Tage lang hat vergangene Woche ein Bündnis rund um die Refugees in Libya in Rom gegen die Zusammenarbeit von Libyen und der EU protestiert. Zu Wochenbeginn sitzt Yambio im Versammlungsraum eines Kulturzentrums nahe des Termini-Bahnhofs und checkt Sprecher:innen ein, die mit dem Flugzeug angereist sind. Er selbst war 2019 und 2020 in drei Lagern des Libyan Directorate for Combating Illegal Migration (DCIM) interniert, darunter dem Al-Mabani-Camp in Tripolis. «Wir werden nie vergessen, was uns dort angetan wurde.» Rund 7000 Menschen seien in al-Mabani zusammengepfercht gewesen, teils zu Hunderten pro Zelle. «Man kann sich nicht hinlegen, es gibt kaum Wasser und Toiletten, bei 45 Grad schmilzt dein Körper förmlich.» Immer wieder hätten Gefangene das Bewusstsein verloren und seien nicht wieder aufgewacht.

Das ganze DCIM-System sei darauf ausgelegt, die Menschen zu terrorisieren, um Lösegeld zu erpressen oder sie für Zwangsarbeit weiterzuverkaufen, sagt Yambio. «Sie sagen, es gehe um den Kampf gegen Menschenhandel – dabei sind die Milizen in Libyen die grössten Menschenhändler.» Dass Italien und die EU Akteure unterstützten, die tief in dieses Geschäft verstrickt seien, dürfe nicht unwidersprochen bleiben. «Sie glauben, niemand zieht sie zur Rechenschaft.»

Schiffe, Geld und Training

Folter von Migrant:innen, Schüsse auf Retter:innen, mafiöse Geschäfte: Seit Jahren häufen sich Berichte über schwerste Menschenrechtsverletzungen der sogenannten libyschen Küstenwache (LCG) und der mit ihr verbundenen Milizen. Trotzdem haben die Regierungen Italiens und Deutschlands am Mittwoch vor einer Woche unabhängig voneinander entschieden, die Zusammenarbeit fortzusetzen. In Rom befasste sich das Parlament mit der turnusmässigen Verlängerung der aus dem Jahr 2017 stammenden Vereinbarung zur Flüchtlingsabwehr mit Libyen. Getroffen hatte sie damals die vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) geführte Regierung unter Ministerpräsident Paolo Gentiloni. Am Vortag der Abstimmung hatte ein Bündnis von Oppositionsparteien unter der aktuellen PD-Chefin Elly Schlein einen Stopp der Zusammenarbeit mit der LCG beantragt: Diese sei von Milizen durchsetzt, «die jeden Tag Menschen- und Grundrechte mit Füssen treten», sagte Schlein.

Die LCG war ab 2016 vor allem auf Betreiben Italiens im Bürgerkriegsland aufgebaut worden. Seither bekommt sie aus Europa Geld, Training, Schiffe sowie Unterstützung bei der Luftraumüberwachung. Auf EU-Ebene wird die LCG heute von der European Union Border Assistance Mission unterstützt, an der auch die Schweiz beteiligt ist, sowie vom Projekt «Support to Integrated Border and Migration Management in Libya».

Seit 2016 hat die LCG nach Angaben der Uno-Migrationsagentur IOM rund 190 000 Menschen auf dem Mittelmeer gestoppt und zurück nach Libyen gebracht. Dort werden sie in den DCIM-Lagern interniert. 2025 betraf das bis September rund 18 200 Personen, im Schnitt also 67 pro Tag. Kürzlich hatte die NGO Sea Watch eine Dokumentation von sechzig gewaltsamen Angriffen, häufig unter Einsatz von Schusswaffen, auf Seenotretter:innen durch die LCG veröffentlicht. Am 13. Oktober wurden dabei während einer Rettungsaktion der italienischen NGO Mediterranea ein Mensch durch einen Schuss in den Schädel lebensgefährlich und zwei weitere schwer verletzt.

Im September hatten 42 zivilgesellschaftliche Organisationen die EU-Kommission aufgefordert, die Unterstützung für die LCG einzustellen. Diese hält jedoch an der Kooperation mit Libyen fest. «Das haben wir bisher getan und werden es auch weiterhin auf verschiedenen Ebenen tun, und das ist derzeit unsere Politik», sagte Sprecher Guillaume Mercier. Am Dienstag legten 38 EU-Abgeordnete nach und verlangten von der Kommission, jede Unterstützung für die libyschen Milizen einzustellen.

Die italienische Rechtskoalition unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wies indes den Oppositionsantrag im Parlament ab. Rom wird die LCG weiter mit Schiffen, Geld, Training und Ausrüstung unterstützen. Ziel sei der «Kampf gegen den Menschenhandel», behauptete Meloni. Fast wortgleich begründete auch das Auswärtige Amt in Berlin, warum es sich am «Kapazitätsaufbau» in Libyen beteiligen wolle.

Praktisch zeitgleich mit dem Votum in Rom winkte der Bundestag in Berlin die Verlängerung des Bundeswehrmandats für die EU-Militärmission Irini durch. Diese soll das Waffenembargo gegen Libyen überwachen, als «Nebenaufgabe» aber auch die LCG weiter aufbauen und schulen. An Letzterem hatte sich Deutschland unter der SPD-geführten Ampelregierung wegen deren Menschenrechtsverstössen explizit nicht beteiligt. «Grundsätzlich gilt für die Bundesregierung: Es gibt keine bilaterale Unterstützung für die libysche Küstenwache», sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes noch Ende September. Im neuen Bundeswehrmandat der schwarz-roten Regierung ist die «Schulung» der LCG nun aber als Aufgabe genannt. Die zu Ampelzeiten verfolgte Linie ist damit passé.

Der Kampagne der Refugees in Libya angeschlossen hatte sich auch die in Italien einflussreiche Antimafiabewegung. «Für uns ist klar, dass die Situation in Libyen stark von der organisierten Kriminalität beeinflusst ist», sagt Giorgio Sammito von der NGO Libera. Das Bündnis kämpft seit Jahren dafür, dass Vermögenswerte krimineller Netzwerke in gemeinnützige Projekte überführt werden. Sammito sieht starke Parallelen zwischen dem Agieren der libyschen Milizen und der italienischen Mafia: «Infiltration des Staates, faktische Kontrolle über ein Territorium, Gewalt als Machtinstrument.» In Libyen sei kaum noch zwischen kriminellen Milizen und staatlichen Akteuren zu unterscheiden. Umso schlimmer sei, dass Italien und die EU solche Akteure weiter aufbauten.

Die Würde zurückgeben

Libera setzt sich seit Jahren fürs Gedenken an die Opfer von Mafiamorden ein. «Ich glaube, dass es da Berührungspunkte mit den Kämpfen der Flüchtlinge gibt», sagt Sammito. «Bei uns geht es darum, die anonymen Toten sichtbar zu machen.» Auch die toten Flüchtlinge erschienen in der öffentlichen Wahrnehmung meist nur als namenlose Zahlen. «Das ist eine Form der Entmenschlichung. Man muss ihnen ihre Würde zurückgeben. Dabei wollen wir mithelfen.»

Am Freitag entrollte das Bündnis in der Innenstadt von Rom eine Liste mit den bekannten Daten von rund 60 000 Menschen, die seit 1993 auf dem Weg nach Europa zu Tode kamen. Im Anschluss erinnerte Refugees in Libya mit einem Tribunal an einen besonders schweren Völkerrechtsverstoss Italiens: Im Januar war der libysche General Osama al-Masri Nadschim bei einem Fussballspiel in Turin festgenommen worden. Unter Masris Kommando standen mehrere Internierungslager in Libyen, wegen schwerster Misshandlung der dort Inhaftierten wird Masri vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Statt ihn nach Den Haag auszuliefern, liess die Meloni-Regierung Masri allerdings von der italienischen Luftwaffe nach Tripolis zurückfliegen.

«Niemand benennt die Verantwortlichen für dieses Unrecht», sagt David Yambio, Sprecher von Refugees in Libya, der selbst in mindestens einem der Lager inhaftiert war, das Masri befehligt hatte. «Also tun wir es.»