Aktionstage in Genf: «Das UNHCR gibt sich besorgt – alles Lügen»
Die Bewegung Refugees in Libya protestiert in Genf gegen das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Ihr Sprecher David Yambio erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörde.
WOZ: Herr Yambio, von all den Organisationen, die im europäischen Grenzgebiet aktiv sind – weshalb rufen Sie gerade zum Widerstand gegen das UNHCR auf?
David Yambio: Es gab in letzter Zeit ja nicht nur in Libyen, sondern auch in anderen Ländern in der Maghrebregion und darüber hinaus Proteste gegen das UNHCR. Weil dieses sein Mandat nicht wahrnimmt, sich für den Schutz vertriebener Menschen einzusetzen. Stattdessen ist es selbst ein wichtiger Teil des europäischen Grenzregimes. Es arbeitet mit Regierungen vor Ort zusammen – im Dienst Europas. Das ist nicht besonders erstaunlich: Die Organisation finanziert sich aus Mitteln der EU sowie einzelner Staaten, die selbst eine wesentliche politische Verantwortung für die Verbrechen in dieser Region tragen.
Die Refugees in Libya haben viel Aufmerksamkeit erregt. Wie haben Sie das erreicht?
Unsere Bewegung nahm vor über einem Jahr Fahrt auf. Im Oktober 2021 haben wir vor dem Sitz der UNHCR-Mission in Libyen ein Protestcamp aufgeschlagen. Wir haben mehr als drei Monate lang dort ausgeharrt, um unseren Stimmen Gehör zu verschaffen. Das UNHCR hat uns während dieser ganzen Zeit fast komplett ignoriert. Niemand hat uns zugehört. Die Mitarbeiter:innen haben ihre Türen immer wieder aufs Neue direkt vor unseren Gesichtern ins Schloss fallen lassen.
Welche Forderungen stellen Sie an die Organisation?
Die zentrale Forderung ist, dass das UNHCR endlich Verantwortung übernimmt. Das wäre ja auch sein Mandat. Tausende Menschen sind in Libyen in grosser Gefahr und erleben unvorstellbare Verbrechen. Sie brauchen dringend Schutz. Die Organisation soll sich dafür einsetzen, dass Evakuierungen erfolgen können, dass die Internierungslager im ganzen Land geschlossen werden, dass Europa aufhört, die verantwortlichen Milizen und den libyschen Staat finanziell zu unterstützen. Und dafür, dass dieser endlich die Genfer Konvention von 1951 ratifiziert. All diese Forderungen haben wir immer und immer wieder gestellt; unzählige Aufrufe haben wir schon verfasst; mit Briefen haben wir uns auch mehrmals direkt an den UNHCR-Hauptsitz in Genf gewandt. Aber wir wurden im Stich gelassen.
Haben Sie je eine Antwort auf Ihre Briefe erhalten?
Nein. Erst nachdem unser Camp im Januar geräumt worden war, meldete sich das UNHCR: Es hätte unseren Protest mit Besorgnis verfolgt und würde sein Bestes geben, um unsere Lage zu verbessern. Alles Lügen.
Wie ist es Ihnen damals gelungen, sich unter diesen enorm widrigen Umständen in Libyen zu organisieren?
Entscheidend war der Zeitpunkt. Am 1. Oktober 2021 verübten Milizen einen brutalen Überfall auf das Quartier Gargaresch im Westen von Tripolis. Das Quartier wurde zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich von Geflüchteten bewohnt – von rund 10 000 Asylsuchenden, die das UNHCR eigentlich unterstützen sollte. Auch ich lebte damals dort. Die vom Staat beauftragten Täter haben an diesem Tag unsere Häuser zerstört, unser Geld und unsere übrigen Besitztümer gestohlen. Über 4000 Menschen wurden in Lagern interniert. Wir alle, die damals dabei waren, kennen Leute, die erpresst wurden, die vergewaltigt wurden, Kinder, die verschwunden sind.
Am nächsten Tag sind dann einige von uns, die den Angriff überlebt hatten und nicht in den Lagern verschwunden waren, zum Sitz des UNHCR in Libyen gegangen, um Schutz zu suchen. Vergeblich. Die Mitarbeiter:innen kümmerten sich nicht um uns. Und wir haben verstanden, dass wir uns selbst organisieren müssen, um die internationale Gemeinschaft auf uns aufmerksam zu machen. Die Organisation, der diese Aufgabe eigentlich zukommen würde, wird uns dabei nicht helfen. Also sind wir dortgeblieben, auf der Strasse vor dem UNHCR. In erster Linie, um der Welt zu zeigen, dass es uns gibt.
Und dann ist die Bewegung immer weiter gewachsen. Wie haben Sie mobilisiert? Hat sich das alles spontan ergeben?
Wir hatten nie wirklich einen Plan. Uns allen war einfach klar, dass wir uns irgendwie zusammenschliessen müssen, um Druck aufbauen zu können. Dann haben wir mit allen Leuten, die bei unserem Camp vorbeikamen, etwa weil sie einen Termin beim UNHCR wahrnehmen wollten, immer gleich das Gespräch gesucht. Über die Gewalt, der wir alle auf den Strassen Libyens schutzlos ausgesetzt waren. Man ist dort ja ohnehin nie sicher – ob man jetzt Widerstand leistet oder nicht. Und wir haben dann jeweils gefragt: Wieso schliesst du dich uns nicht an und erhebst damit wenigstens deine Stimme? Zu Beginn waren wir weniger als zehn Leute. Am Schluss waren wir mehr als dreitausend.
Bis das Protestcamp am 10. Januar gewaltsam geräumt wurde.
Ja. Mehrere Hundert meiner Kamerad:innen wurden damals verhaftet. Die Sicherheitskräfte schossen scharf. Während wir jetzt gerade miteinander reden, sind immer noch mehr als 300 Protestierende der Refugees in Libya inhaftiert. Manche wurden getötet, andere sind bis heute spurlos verschwunden. Auch hier hat das UNHCR wieder einfach nur zugesehen. Ich glaube sogar, dass es die Räumung unterstützt hat. Aber wir geben nicht auf. Obwohl es das erklärte Ziel der Machthaber ist, unsere Stimmen zum Schweigen zu bringen, haben wir nie aufgehört, dafür zu kämpfen, den Horror, den die Menschen in Libyen erleben, sicht- und hörbar zu machen. Unsere Bewegung wird immer stärker.
Sie selbst sind aber nicht mehr vor Ort. Wie erging es Ihnen nach der Räumung des Camps?
Ich geriet damals ins Visier der Regierung und der Milizen. Als Sprecher der Bewegung war mein Gesicht im Fernsehen und überall in den sozialen Medien zu sehen. Im Juni gelang es mir dann aber, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Es war schon mein fünfter Versuch, Libyen zu verlassen, seit ich dort 2018 ganz allein angekommen war. Nun vernetzen wir uns in ganz Europa. Die Aktionstage in Genf am Wochenende zeigen, wie gross wir mittlerweile geworden sind. Auch Personen, die immer noch in Libyen sind, wurden dafür in die Organisation eingebunden.
Was erhoffen Sie sich davon?
Wir müssen die Europäer:innen erreichen. All jene, denen es nicht abwegig scheint, kurz von Amsterdam nach Rom zu fliegen, um dort mal eben gut essen zu gehen. Sie haben deutlich mehr Handlungsmöglichkeiten als die Menschen in Libyen. Demokratische Regierungen können von ihren Bürger:innen beeinflusst werden. Darauf, dass sie diese Möglichkeit wahrnehmen, sind wir angewiesen.
David Yambio
Der Menschenrechtsaktivist und Mitgründer von Refugees in Libya, David Yambio (25), ist im Südsudan aufgewachsen. 2018 gelangte er nach Libyen, wo er vier Jahre lang lebte – davon hat er fast zwei Jahre in verschiedenen Internierungslagern und staatlichen Gefängnissen verbracht. Immer wieder habe er sich hilfesuchend an das Büro des UNHCR vor Ort gewandt und auf seine Erfahrungen in den Lagern aufmerksam gemacht – vergeblich. Heute lebt er in Europa.