Welthandel: Neue alte Ordnung
Schuldenkrise und fehlende Entwicklungsgelder: In Genf berieten Politiker:innen aus der ganzen Welt über drängende Finanzierungsprobleme im Globalen Süden.

«Wir leben in einer Übergangsphase, in der das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren ist.» Mit diesen Worten eröffnete Generalsekretärin Rebeca Grynspan am Montag die Uno-Handels- und Entwicklungskonferenz (Unctad) in Genf. Die Diagnose der costa-ricanischen Ökonomin erinnert nicht zufällig an den Marxisten Antonio Gramsci, der mit ähnlichen Worten die politische Krise Italiens in den 1920er Jahren beschrieb. Grynspans Botschaft lautete: Angesichts fundamentaler Umbrüche müsse die internationale Gemeinschaft aktiv um eine neue globale Ordnung ringen.
Auf der 16. Unctad-Konferenz berieten bis Donnerstag über 160 Minister:innen und Regierungsvertreter:innen darüber, wie sie Handel, Finanzen, Investitionen und Technologie für eine gerechtere und nachhaltigere Entwicklung nutzen können. Am Montag trat die Schweiz als Nachfolgerin von Barbados den Vorsitz des 1964 gegründeten Staatenforums an. Die anwesenden Delegierten wählten den SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin per Akklamation ins Amt.
Im Zentrum der Debatten in Genf standen die Schuldenkrise vieler Schwellen- und Entwicklungsländer und der eskalierende Handelsstreit zwischen China und den USA, der eine dramatische Zunahme protektionistischer Massnahmen bewirkt hat. In grossen Ökonomien wie Indien stiegen die Durchschnittszölle in einzelnen Bereichen von 2,6 Prozent im Jahr 2024 auf 17,9 Prozent im September 2025 an.
Komplexer und unberechenbarer
Dennoch treibt insbesondere der Handel mit Waren und Dienstleistungen das weltweite Wachstum vorerst weiter an. Allein der Süd-Süd-Handel soll laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahr um neun Prozent zulegen und damit die globale Konjunktur stützen. Doch geopolitische Schocks und die Erosion internationaler Regeln bremsen die globale Wirtschaftsdynamik stark.
Die Folge: Der Handel verlagert sich, wird komplexer und vor allem unberechenbarer. Konflikte rund um wichtige Handelsrouten wie die Strasse von Hormus oder im Golf von Aden, wo Huthi-Milizen wiederholt Frachter angriffen, lassen die Preise für den Transport von Gütern enorm schwanken. Laut dem jüngsten Unctad-Bericht zum maritimen Handel haben sie sich teils verdreifacht. «Vorhersehbarkeit ist zum knappsten Gut geworden», erklärte Grynspan in Genf. Die Unvorhersehbarkeit wirke wie ein zusätzlicher Zoll, besonders für importabhängige Staaten.
Zudem fordern Investor:innen wegen der wachsenden Instabilität höhere Risikoaufschläge. Das verknappt das Kapital zusätzlich und verzögert dringend benötigte Investitionen, etwa in erneuerbare Energien, Transport oder Wasserinfrastruktur. Die globalen ausländischen Direktinvestitionen gingen zum zweiten Mal in Folge zurück: 2024 sanken sie um elf Prozent auf 1,5 Billionen US-Dollar, für 2025 erwartet die Unctad einen weiteren Rückgang um sechs Prozent.
Die Folgen treffen vor allem die hochverschuldeten Länder des Globalen Südens. 3,4 Milliarden Menschen leben in Staaten, die mehr für den Schuldendienst ausgeben als für Gesundheit und Bildung. «Wir sprechen von einer Entwicklungskrise», sagte Grynspan. Der Präsident von Osttimor, José Manuel Ramos-Horta, pflichtete ihr bei: Ein «sich verschärfendes globales Handels- und Finanzsystem schliesst uns oft aus, wenn wir es am dringendsten benötigen».
Kürzung von Entwicklungsgeldern
So sind die Uno-Entwicklungsziele, die etwa die Bekämpfung von Armut und Hunger umfassen, immer schwieriger zu erreichen: Das jährliche globale Finanzierungsdefizit bei der Erreichung der Ziele wuchs von 2,5 Billionen US-Dollar im Jahr 2015 auf rund 4 Billionen. Gleichzeitig stecken der Multilateralismus und die internationale Hilfe in der Krise: Staaten kürzen Entwicklungsgelder und streichen Mittel für internationale Organisationen.
Alle Konferenzteilnehmer:innen waren sich einig: Grundlegende Reformen sind unumgänglich. Mia Amor Mottley, Premierministerin von Barbados und ehemalige Unctad-Vorsitzende, warnte etwa: «Ohne Regeln und Leitplanken steigt die Unsicherheit, und die Aussicht auf nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Frieden sowie Sicherheit verschlechtert sich.» Doch über die Ausgestaltung der neuen Regeln wird gestritten. Während zivilgesellschaftliche Organisationen einen Schuldenerlass und verbindliche Mechanismen für Staatsinsolvenzen fordern, wurde in Genf am Mittwoch zunächst nur ein «Schuldenforum» ins Leben gerufen, das über die Schuldenkrise beraten soll.
Generalsekretärin Rebeca Grynspan forderte ausserdem eine tiefgreifende Reform der Finanzarchitektur, «damit Gelder schneller fliessen». Das Kernproblem sieht sie darin, privates Kapital zu mobilisieren – denn der Markt allein versage. «Privates Investment scheut die Orte, die die Investitionen am meisten brauchen», so Grynspan. Entwicklungsbanken müssten gezielt Risiken übernehmen, um Investitionen etwa in erneuerbare Energien anzuschieben und auszuweiten.
Der neue Unctad-Vorsitzende Parmelin betonte, der Privatsektor müsse eine wesentliche Rolle spielen. Seine Formel klang deutlich marktliberaler – so ganz nach Trickle-down-Ökonomie: Gemeinsame Regeln und weniger Bürokratie sollten Investitionen anlocken, von denen am Ende alle profitierten. Eine Position, die den Hauch von Gramsci schnell vergessen liess. Denn mit solchen privatwirtschaftlichen Lösungsvorschlägen droht eine Rückkehr zu Ansätzen, die die aktuelle Krise überhaupt hervorbrachten.