Kurzfilmtage Winterthur: Zoom auf weibliche Realitäten
Feiern und abtreiben – in ihrem prämierten Kurzfilm unterläuft die junge Westschweizer Filmemacherin Camille Surdez gängige Erwartungen.
Regisseurin Camille Surdez.
In Camille Surdez’ «L’Avant-Poste 21» gibt es keine medizinischen Instrumente oder metallenen Operationstische. Stattdessen verbringen drei Freundinnen den Abend in der warm erleuchteten Wohnung an der Avenue de l’Avant-Poste. Mit Cowboyhüten tanzen sie zu lauter Musik. Später sitzt eine der drei blutend und unter Krämpfen auf dem WC, ihre Freundinnen halten ihre Hand: Sie bricht eine Schwangerschaft ab, die Frauen feiern eine Art «Abortion Party». So sollte der Film ursprünglich auch heissen. Zu albern, hiess es allerdings, deswegen blieb der Arbeitstitel.
Die Entscheidung gegen die Schwangerschaft ist längst getroffen, die Tablette geschluckt. Der Film erzählt, was danach kommt. «Meine Freundinnen und ich hatten in der Vergangenheit immer mal wieder Angst, dass wir schwanger sind», erzählt die 24-jährige Surdez. Auch wenn sich die Frage bisher nie gestellt habe, stehe für sie fest: «Eine Abtreibung wäre für uns das kleinere Übel.» Zum Thema fand Surdez über eine Wissenslücke: Erst als sie ihr Filmkonzept erarbeitete, lernte sie, dass die allermeisten Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz medikamentös erfolgen – gemäss Bundesamt für Statistik 2024 83 Prozent. Anders als sie dachte, braucht ein Abbruch häufig gar keine Operation.
«Ziemlich verloren» nach dem Gymi
Sie wollte herausfinden, wie sich der medizinische Vorgang filmisch darstellen lässt, ohne ein tragisches Spektakel daraus zu machen. Die gesellschaftliche Verunsicherung rund um das Thema spiegelte sich dann auch beim Entstehungsprozess an der Kunsthochschule in Lausanne: Dort hätten Produzenten gezweifelt, ob es vertretbar sei, einen Schwangerschaftsabbruch so unaufgeregt zu zeigen.
Am Filmfestival Locarno gewann Camille Surdez mit ihrem Abschlussfilm den Preis als Best Swiss Newcomer. Seltsam sei es dennoch gewesen, sagt Surdez: «Auf einmal war ich mit meinem kleinen Film in Locarno und trank Champagner.» Inzwischen steht in Winterthur das nächste Festival an, wo «L’Avant-Poste 21» im nationalen Wettbewerb antritt (vgl. «Eine Woche lang Kurzfilme»).
Dabei war ihr Weg zur Filmemacherin alles andere als vorgezeichnet: Wie viele andere war sie «ziemlich verloren» nach dem Gymnasium. Ein Jahr Kunstgeschichte an der Universität zeigte ihr, dass sie an der Kunsthochschule besser aufgehoben ist. Für ein Filmstudium entschied sie sich auch deshalb, weil sie das Kino für politische Diskurse schätzt. Ihr gefalle, dass der Zugang niederschwelliger sei als in anderen Kunstformen. Und sie mag die Arbeit im Team: «So muss ich nicht allein mit meinen Zweifeln am Schreibtisch sitzen.» Fünf Filme hat sie während ihres Bachelorstudiums gedreht, die Kosten habe sie, wie sie sagt, abgesehen vom Abschlussfilm, mehrheitlich selbst bezahlen müssen: «Kino ist teuer, auch an der Hochschule.»
Mit dem Abschluss in der Tasche möchte sie künftig als Produzentin ihr Geld verdienen und nebenher ihre eigenen Filme umsetzen. Aktuell arbeitet sie in einem Glaceladen in Sion. Die ursprünglich eingeplante Pause vom Filmemachen ziehe sie nicht wirklich durch, sagt Surdez schmunzelnd. Stattdessen habe sie dieser Tage Förderung für einen neuen Kurzfilm beantragt. Dafür hat sie ein persönliches Projekt eingereicht: eine Dokumentation über ein intergenerationelles Trauma in ihrer eigenen Familie. «Das beschäftigt meine jüngere Schwester und mich sehr. Insbesondere wenn wir an Mutterschaft in unserer Zukunft denken» – auch das sei ein Grund für ihre generelle Angst vor einer Schwangerschaft.
Eine Woche lang Kurzfilme
Gut, blieb Camille Surdez für ihren Film beim Titel «L’Avant-Poste 21»: «Abortion Party» heisst nämlich schon ein Kurzfilm der US-brasilianischen Filmemacherin Julia Mellen, der an den Winterthurer Kurzfilmtagen im Internationalen Wettbewerb läuft. Schwerpunkte im Programm sind etwa eine Reihe zu künstlicher Intelligenz oder zum indischen Filmschaffen abseits von Bollywood. Eine Werkschau ist der portugiesischen Künstlerin und Schriftstellerin Isadora Neves Marques gewidmet, die in ihren Arbeiten Wissenschaft und Technologie, Ökologie und queere Identität verbindet.
Mehr als das Programm war im Vorfeld der Kurzfilmtage deren Finanzierung ein Thema: Nach dem Absprung der Zürcher Kantonalbank als Hauptsponsorin steht das Festival längerfristig vor einem ungelösten Finanzierungsproblem.
Internationale Kurzfilmtage Winterthur. 4. bis 9. November 2025. www.kurzfilmtage.ch
Löcher in den Ringelsocken
Unabhängig vom Genre ist es Surdez ein Anliegen, in ihren Filmen nah an der Realität zu bleiben. So war es ihr wichtig, dass die drei Schauspielerinnen in «L’Avant-Poste 21» tatsächlich Freundinnen sind und die Dynamik ihrer eigenen Freundschaft in die Fiktion einbringen. Allerdings sei es mit der Realität im Film so eine Sache, sagt Surdez: «Du filmst immer aus einer bestimmten Perspektive, selbst in einem Dokumentarfilm. Du forderst Protagonist:innen auf, Passagen zu wiederholen, und drehst Szenen noch einmal, damit sie besser in die Erzählung passen.» Trotzdem ist es ihr Anspruch, insbesondere weibliche Lebenswirklichkeiten zu zeigen.
Sie will «echte Frauen» in ihren Filmen, nicht Figuren, wie man sie aus dem Mainstreamkino kennt. Die Protagonistinnen in «L’Avant-Poste 21» haben kleine Löcher in den Ringelsocken, sie sind mal derber miteinander, mal schweigen sie verunsichert ob des Schwangerschaftsabbruchs. Oder eine Binde guckt aus der Unterhose raus.
Kern des Films ist weniger die Abtreibung als die Verbindung zwischen den drei jungen Frauen. Bereits in ihrem vorherigen Film, «Inconscientes», der im vergangenen Jahr an den Winterthurer Kurzfilmtagen lief, rückte Surdez – mit denselben Schauspielerinnen wie in «L’Avant-Poste 21» – weibliche Freundschaft in den Blick. Das sei ihr Thema, sagt sie. «Die schönsten Beziehungen in meinem Leben sind jene, die ich mit Frauen habe: mit meiner Mutter, meiner Schwester, meinen Freundinnen. Es ist mir wichtig, über Liebe jenseits des Romantischen nachzudenken.»
Fusst ihr Interesse an weiblichen Erfahrungswelten in einem feministischen Anspruch? «Ja», sagt Surdez. Ihre Vision für Feminismus im Kino sei, «Frauen zu sehen, nicht Ideen auf sie zu projizieren».