Literatur: Vulkan und Fixstern

Nr. 44 –

Im Zentrum der Autobiografie Arundhati Roys steht ihre Mutter. Die indische Autorin zeichnet ein vielschichtiges Bild dieser eigenwilligen Frau, die zugleich Vorbild und Tyrannin war.

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Arundhati Roy
Die Mutter «lehrte mich zu schreiben und grollte der Autorin, zu der ich wurde»: 
Arundhati Roy in «Meine Zuflucht und mein Sturm». 
Foto: Jonas Been Henriksen, Imago

Mit ihrem Erstling «Der Gott der kleinen Dinge» schuf Arundhati Roy 1997 eine literarische Sensation. Die Geschichte einer Kindheit und einer verbotenen Liebe im südindischen Kerala wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und gewann den wichtigsten Literaturpreis in der englischsprachigen Welt, den Booker Prize.

Das Werk war von Arundhati Roys Kindheit in Kerala inspiriert, doch die wichtigste Person in ihrem Kosmos tritt darin nicht auf: ihre Mutter Mary Roy, feministische Pionierin und streitbare Pädagogin, Primadonna und Naturgewalt.

Im September 2022 verstarb Mary Roy im Alter von 88 Jahren in der südindischen Stadt Kottayam. Ihre Tochter verlor damit den Fixstern, der ihr Leben bis dahin mit seinen Zentrifugal- und Zentripetalkräften bestimmt hatte. Mit «Meine Zuflucht und mein Sturm» legt Arundhati Roy nun ein Buch vor, in dem sie in offenherziger, schockierender und oft witziger Weise die Vita ihrer Mutter wie auch ihre eigene reflektiert.

Exzentrische Charaktere

In den neuen Memoiren begegnen wir den exzentrischen, vom Leben gezeichneten Charakteren, die das Dorf Ayemenem im «Gott der kleinen Dinge» und in Arundhati Roys Kindheit bevölkern. Vor allem lernen wir aber Mary Roy kennen, den Vulkan im Zentrum dieser Kindheit.

Mary Roy verstiess gegen sämtliche Konventionen ihrer konservativen syrisch-christlichen Gemeinschaft, als sie ihren trinkenden Mann verliess und ihre beiden Kinder allein grosszog. Sie gründete eine Schule, die Mädchen wie Buben eine gleichberechtigte Erziehung ermöglichte, und führte diese mit ihrem freien Geist und ihrer unzähmbaren Energie zum Erfolg. Doch die Frustrationen, die sie in ihrem Kampf erfuhr, liess sie an ihren beiden Kindern aus. Arundhati Roy und ihr Bruder erlebten ihre Mutter als öffentliches Vorbild und private Tyrannin.

«Was mich betraf, so lehrte mich Mrs Roy zu denken und wütete dann gegen meine Gedanken», schreibt die Autorin. «Sie lehrte mich, frei zu sein, und wütete gegen meine Freiheit. Sie lehrte mich zu schreiben und grollte der Autorin, zu der ich wurde.»

Mit sechzehn Jahren ergriff Arundhati Roy die Flucht nach Delhi, wo sie in ärmlichsten Verhältnissen Architektur studierte. In ihren Memoiren beschreibt sie eine Zeit der Selbstfindung, die geprägt war von Obdachlosigkeit und Entbehrungen, von Freundschaft und Solidarität, von sexueller Befreiung und von Liebe. So schreibt Roy über die erste Begegnung mit einem späteren Freund: «Er war Jesus. Er war Rock ’n’ Roll. Er war den ganzen Weg von Woodstock bis nach Kerala auf dem Wasser gegangen, nur um mich zu treffen.»

Erste Anerkennung erfuhr Arundhati Roy als Autorin von Filmdrehbüchern. Die damit verbundenen Honorare erlaubten ihr, sich Zeit zu nehmen, um ihre eigene Sprache zu finden – die sinnliche, unerschrockene Sprache, die vom Puls der Natur und auch des Rock ’n’ Roll geprägt ist und ihr im Alter von 37 Jahren mit ihrem ersten Roman zum Welterfolg verhalf.

Nach ihrem kometenhaften Aufstieg verweigerte sich Arundhati Roy dem goldenen Käfig der literarischen Prominenz und der damit verbundenen Erwartungen: International wollte sie nicht als exotische Stimme aus Südindien definiert werden, in Indien nahm sie sich die Freiheit, von der kulturellen Nationalheldin zur Nestbeschmutzerin zu werden. Sie war nicht bereit, ihre Rollen als Schriftstellerin und Gesellschaftskritikerin gegeneinander auszuspielen, und wartete zwanzig Jahre bis zur Veröffentlichung ihres nächsten Romans. Während dieser Zeit verfasste sie immer wieder mutige, mit hohem persönlichem Einsatz recherchierte Reportagen, zum Beispiel über den atomaren Wettlauf zwischen Indien und Pakistan, die Mammutstaudämme im Narmadatal, den Aufstand der maoistischen Naxalitenguerilla in den Wäldern Zentralindiens oder die brutale militärische Besetzung Kaschmirs.

Mit ihren Essays gelang es Arundhati Roy, ihrer Empörung über die frauenverachtende, rassistische indische Kasten- und Klassengesellschaft eine künstlerische Form zu geben. Die Reportagen erlaubten ihr zudem, wie sie schreibt, ihr Leben zusammenzuhalten, als es von den Spannungen der plötzlichen Prominenz und der nicht gesuchten Privilegien zerrissen zu werden drohte.

Als Landesverräterin verunglimpft

Wie ihre Mutter erlebte die Schriftstellerin aufgrund ihres Engagements in Indien starke Ablehnung, Widerstand und Spott. Sie wurde als Landesverräterin verunglimpft, immer wieder mit dem Tod bedroht und auch einmal zu einem kurzen Gefängnisaufenthalt verurteilt. Wie ihre Mutter wurde sie gleichzeitig zu einer Inspiration für unzählige Frauen und Männer.

«Ich war nicht Christin genug», schreibt Arundhati Roy in ihren Memoiren. «Ich war nicht Hindu genug. Ich war nicht Kommunistin genug. Ich war nicht genug. Es war eine Erleichterung. Es befreite mich und setzte mich in Bewegung.» Mit ihrem neuen Buch legt Arundhati Roy ein eindrückliches, bewegendes Zeugnis von einem Leben in Mut und Freiheit ab – und trägt gleichzeitig die besten Qualitäten ihrer Mutter weiter.

Buchcover von «Meine Zuflucht und mein Sturm»
Arundhati Roy: «Meine Zuflucht und mein Sturm». Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2025. 368 Seiten.