Arundhati Roy: Das Paradies liegt auf dem Friedhof

Nr. 46 –

Und zwischen Gräbern ein Obdach für die Ausgestossenen: Zwanzig Jahre nach dem «Gott der kleinen Dinge» versucht Arundhati Roy, den indischen Subkontinent in einem grossen Roman zu bannen.

Wie erzählt man eine zerbrochene Geschichte über ein chaotisches Land, in dem 21 Sprachen gesprochen werden und wo Gewaltexzesse an der Tagesordnung sind? Ihren Auftritt beim internationalen Literaturfestival jüngst in Berlin eröffnete Arundhati Roy mit einem Film, der Momentaufnahmen aus der indischen Hauptstadt Delhi zeigte – eine einzige Reizüberflutung und eine Zumutung für die gemächlichere europäische Wahrnehmung. Indien könne man nicht definieren, sagte die Schriftstellerin und Aktivistin, und was die Menschen betreffe – eine Kuh lebe dort sicherer als eine Frau.

Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis Arundhati Roy nach dem Welterfolg mit «Der Gott der kleinen Dinge», der Geschichte einer in der Kastengesellschaft unmöglichen Liebe, ihren zweiten Roman vorgelegt hat. Lange war darüber spekuliert worden, ob die 55-jährige Tochter eines hinduistischen Vaters und einer aus Syrien stammenden christlichen Mutter überhaupt noch einmal als Schriftstellerin in Erscheinung treten würde, nachdem sie so lange als Galionsfigur der indischen Menschenrechtsbewegung unterwegs war. Und wer «Das Ministerium des äussersten Glücks» aufschlägt und einen Zugang sucht, versteht, warum es so lange gedauert hat. Denn in dem über 500 Seiten schweren Wälzer geht es um alles: um Liebe, Kasten, Kaschmir, Intimität, Kummer und vieles andere. Allein die groben Erzählfäden herauszufiltern, ist eine Herausforderung.

Im Haus der Träume

Dabei hebt der Roman im kleinen Kreis an. Erzählt wird von einer muslimischen Familie, die in der ummauerten Altstadt von Delhi lebt und sich über den lang ersehnten Sohn freut. Doch Aftab ist, wie seine Mutter feststellen muss, anders, er hat auch die geschlechtlichen Zeichen eines Mädchens. Ein Intersexueller oder, wie man in Indien sagt, eine Hijra. Eine Zeit lang hütet die Mutter das Familiengeheimnis, doch dann findet der fünfzehnjährige Aftab Unterschlupf in der Khwabgah, dem Haus der Träume, wo die Hijras separiert von der Gesellschaft unter der Leitung eines Gurus leben. Denn in Indien gelten alle Menschen mit nicht eindeutigem Geschlecht als Auserwählte, wenn auch als Ausgestossene. Sie treten tanzend auf Hochzeiten auf und leben von der Prostitution.

Hier, in diesem ganz anderen Universum, wird Aftab zu Anjum, die Mädchenkleider trägt und in Identitätskonflikte gerät, als sie in den Stimmbruch kommt und sich zu einer – am Ende verpfuschten – Genitaloperation entschliesst: «Aftabs Körper hatte unmittelbar angefangen, Krieg gegen ihn zu führen.» Dieser endet vorläufig, als Anjum das Findelkind Zainab aufnimmt und in ihre Mutterrolle hineinwächst.

Doch diese scheinbar private Geschichte, die einen der Hauptstränge des Buches bildet, wird von Beginn an verwoben mit der Situation im Land und mit Verweisen auf die globale Politik, deren Widersprüche Anjum am eigenen Leib erfährt. Die normalen Menschen, wird ihr in der Khwabgah erklärt, seien unglücklich wegen äusserlicher Dinge wie Preiserhöhungen, häuslicher Gewalt, Betrug, Unruhen: «Aber bei uns sind Preiserhöhungen, die schlagenden Männer und die betrügerischen Frauen in uns. Die Unruhen finden in uns statt. Das wird sich nie beruhigen.»

Dasselbe gilt auch für den indischen Subkontinent, nachdem «Gottes Halsschlagader platzte auf der neuen Grenze zwischen Indien und Pakistan». Während der dreissig Jahre, die Anjum in der Khwabgah verbringt, wird aus Pakistan eine islamische Republik, bricht die alte ummauerte Stadt Delhi auf und verschärft sich der Kaschmirkonflikt. Mit der zunehmenden Hinduisierung der indischen Gesellschaft geraten die MuslimInnen unter immer grösseren Druck. Auf einer Pilgerreise gerät Anjum in Gujarat – der Region, wo 2002 ein unvorstellbares Massaker an MuslimInnen stattgefunden hat – zwischen die Fronten und wird gefangen genommen. Sie überlebt die Ausschreitungen nur, weil sie eine Hijra ist.

Diese Erfahrung veranlasst sie, die Khwabgah zu verlassen. Sie lässt sich auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi nieder, wo sie zwischen den Gräbern ihrer Verwandten Arme und Ausgestossene wie sie selbst um sich sammelt: «Ich bin ein mehfil, eine Versammlung, von allen und niemand und nichts.» Sie errichtet ein Gästehaus, «Jannat», was so viel heisst wie Paradies. Es wird zum Ort des äussersten Glücks derer, die keinen Platz in der indischen Gesellschaft finden.

Die Wahrheit in der Fiktion

Die Autorin weiss, wovon sie schreibt, wenn sie den Kaschmirkonflikt aufruft oder über die UreinwohnerInnen schreibt, die ihr Land verlieren, weil der indische Staat es teuer an Konzerne verkauft, denn Roy war wochenlang bei ihnen im Wald und hat mit ihnen gesprochen. Sie hat die Flüchtlinge gesehen, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aus Angst vor der Rache der USA aus Afghanistan nach Indien kamen, wo ihnen eine antimuslimische Stimmung entgegenschlug. Von all dem und vielem mehr ist in Roys Roman die Rede. Dennoch lässt sich die Schriftstellerin nicht gerne als Aktivistin bezeichnen. Sie ist überzeugt, dass die Wahrheit über Indien nur in der Fiktion zu vermitteln sei.

Den KämpferInnen gegen den indischen Nationalismus und religiösen Fanatismus räumt sie deshalb in einem weiteren grossen Erzählstrang breiten Raum ein. In dessen Mittelpunkt steht die junge Architektin Tilo, um die drei Männer kreisen: Musa, ein Kaschmiri, den sie liebt und dessen Frau und Tochter der Aufstandsbekämpfung zum Opfer fallen, Gupta, den Tilo aus Studienzeiten kennt, und Naga, ein Journalist, der gleichzeitig für den indischen Geheimdienst arbeitet – keine Seltenheit, wie Roy sagt. Auch ein Kind, das von maoistischen Partisanen ausgesetzt wird, spielt eine wichtige Rolle. Und alle diese verwickelten Erzählfäden laufen wieder zusammen auf dem Friedhof, wo Anjum mit ihren FreundInnen – darunter einer, der sich Saddam Hussein nennt, aber ein Dalit, ein «Unberührbarer», ist – mittlerweile die Kunst des Überlebens übt: «Der nicht zu überschätzende Vorteil des Gästehauses auf dem Friedhof war, dass es im Gegensatz zu allen anderen Vierteln nicht unter Stromsperren litt. Anjum hatte den Strom von der Leichenhalle abgezweigt, in der die Leichen Rund-um-die-Uhr-Kühlung erforderten.»

Hin und her auf der Zeitachse

Roy macht es ihrer LeserInnenschaft nicht einfach, denn sie stösst nicht nur an die blutigen Grenzen ihres Landes und an die schmerzvollen Grenzen des Geschlechts, sondern auch an die Grenzen ihres Genres. Der Roman überbordet mit indischen Begriffen, von denen nicht alle im Glossar erklärt werden, und mit einer auf der Zeitachse hin- und hersausenden, sich verästelnden und abschweifenden Handlung, der man bei aller Konzentration nicht immer leicht folgen kann. Es gibt Passagen, bei denen man ganz bei ihr ist, aber auch solche, die ermüden.

So ist das, wenn man durch eine fremde, undurchdringliche Stadtlandschaft streift. Der Roman, sagt die gelernte Architektin, die sich in ihrer Protagonistin Tilo aber nicht gespiegelt sehen will, sei ein Universum, durch das es viele Wege gebe. «Man muss mal hier, mal dort abbiegen. Eine Stadt lernt man ja auch nicht kennen, wenn man nur auf der Hauptstrasse bleibt.»

Arundhati Roy: Das Ministerium des äussersten Glücks. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2017. 552 Seiten. 36 Franken