Deutsche Bahn: Absturz mit Ansage
Wie der grösste Eisenbahnkonzern Europas zum Totalausfall wurde.
Irgendwann 2022 muss es gewesen sein, da kursierte unter ukrainischen Geflüchteten in Deutschland ein Meme. Es zeigte einen Zug, daneben stand sinngemäss: «Ukrainische Bahn: Aufgrund massiver Bombardierung kann es zu Verspätungen von bis zu 15 Minuten kommen, wir bitten um Entschuldigung. Deutsche Bahn: Wegen Schneeregen fällt Ihre Verbindung leider aus.»
Andere Szene, gleiches Jahr. Auf einer Fernverbindung kommt der Zug zum Stehen. Die Stimmung im Wagen ist trotz mehr als zweistündiger Verspätung gelöst. Das liegt an einer grossen Gruppe britischer Fahrgäste. «It’s like at home», ruft einer vergnügt seinem Begleiter zu – die durch Privatisierung zerstörte British Railways galt lange als besonders abschreckendes Beispiel für ein dysfunktionales Bahnsystem in Europa. Wenig später kommt der Kondukteur durch den Wagen. Eine vorsichtige Nachfrage, warum es nicht weitergeht, überrascht den Mann. Genauer gesagt, es überrascht ihn, dass jemand sich das fragt. Seine achselzuckende Antwort: «Deutsche Bahn halt.»
«Das ist kein Sprint»
Die Verblüffung über den schlechten Zustand des Schienenverkehrs, die Fahrgäste aus dem Ausland manchmal ereilt, können Bahnreisende in Deutschland kaum noch empfinden. Daran, dass fast die Hälfte der Fernzüge mit Verspätung ankommt – wenn überhaupt –, hat man sich gewöhnt. Dass es besser laufen könnte, scheint nahezu unvorstellbar. Reisende aus der Schweiz wundert das möglicherweise. Die Schweizerischen Bundesbahnen sind stolz auf ihre pünktlichen Züge, und das mit Recht. 2024 lag die Zugpünktlichkeit bei sagenhaften 93,2 Prozent. Die Anschlusspünktlichkeit, also die Verbindungen, mit denen man den Anschlusszug noch erreicht, betrug sogar 98,7 Prozent.
Zugpünktlichkeit und Anschlusspünktlichkeit werden auch in Deutschland gemessen, dort heissen sie «betriebliche Pünktlichkeit» und «Reisendenpünktlichkeit». Erstere lag im September im Fernverkehr bei 55,3 Prozent, Letztere bei 61,9. Verbindungen, die ganz ausfallen, fliessen nicht in die Statistik ein. Dabei kommt das häufig vor, mitunter lässt man Züge auch absichtlich ausfallen, um andere Verbindungen zu «retten».
Entsprechend dürften viele bei der Bahn aufgeatmet haben, als CDU-Verkehrsminister Patrick Schnieder bei der Vorstellung der neuen Bahnstrategie Ende September das Ziel von 70 Prozent Pünktlichkeit bis 2026 fallen liess. Es sei schlicht «nicht annähernd erreichbar». Nun werden 70 Prozent bis Ende 2029 angestrebt, mittelfristig – eine konkrete Zeitangabe fehlt – 80, langfristig 90 Prozent. Weitere Ziele, «Sofortprogramme» genannt: saubere Bahnhöfe und Züge, Verbesserungen bei der Bahn-App und im Bordbistro und die Fortsetzung der Streckensanierung. Ausserdem hat der Konzern eine neue Chefin bekommen. Evelyn Palla, vormals bei der (pünktlicheren) Regio-Abteilung der Bahn, ist seit Oktober Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG. Doch auch die Südtirolerin sagt: «Nichts wird schnell gehen. Das ist kein Sprint. Die Sanierung der Infrastruktur ist ein Marathon.»
Um die Wartezeit bis zu mehr Pünktlichkeit zu überbrücken, verlegt sich die Deutsche Bahn auf Imagepolitik, Modell «entwaffnend ehrlich». In den neuen Werbeclips präsentiert sich der Konzern als sympathischer Loser, die Mitarbeiter:innen als gewitzt improvisierende Held:innen des Alltags, die auch unter widrigen Bedingungen das Beste für die Reisenden rausholen. Auch die Ansagen des Personals changieren immer öfter zwischen Durchhalteparolen und Galgenhumor. Ein Beispiel aus einer Fernverbindung im Oktober, bei der nichts funktionierte und sich der Zug schliesslich für einen längeren Stopp in Fulda wiederfand – die Durchsage, mit der die Fahrgäste darüber informiert wurden: «Sie kennen solche Tage, der Zuggott gibt, der Zuggott nimmt. Er hat uns einiges genommen, aber er hat uns auch Fulda gegeben.»
Fokus auf Effizienzsteigerung
Mit etwaigen höheren Mächten hat die desaströse Lage der Deutschen Bahn allerdings nichts zu tun, sie ist ganz und gar menschengemacht.
Der Niedergang des Schienenverkehrs begann in Westdeutschland schon in der Nachkriegszeit. Damals galt das Auto als Verkehrsmittel der Zukunft. Seine Förderung war verkehrspolitisches Leitbild, das auch bei der Stadtplanung Pate stand – Stichwort «autogerechte Stadt». So schrumpfte der Anteil der Bundesbahn am Personenverkehr kontinuierlich: von 37 Prozent 1950 auf nur noch 6 im Jahr 1990, wobei der grösste Einbruch bereits in den fünfziger und sechziger Jahren zu verzeichnen war. Im Güterverkehr sah es ähnlich aus, wenn auch weniger drastisch (von 56 auf 21 Prozent im gleichen Zeitraum). Das Netz der westdeutschen Bundesbahn wurde zwischen 1949 und 1989 um ein Zehntel geschrumpft, das Personal mehr als halbiert.
Anders in der DDR: Dort sank der Anteil der Bahn am Personenverkehr zwar von 1950 bis 1965 ebenfalls (von 68 auf 45 Prozent), lag dann aber bis 1989 stabil bei gut 40 Prozent – um im Jahr der Wiedervereinigung, 1990, auf nur noch 14 abzustürzen. Auch im Güterverkehr setzte die DDR auf die Schiene, in den achtziger Jahren wurden 77 Prozent des Transports über die staatliche Reichsbahn abgewickelt. Das Netz wurde beständig ausgebaut, aber schlecht gepflegt. 1990 änderte sich all das dramatisch. Personal, das es in der DDR im Überfluss gab, wurde entlassen, ausgebildet wurde kaum noch. Ein Ergebnis: Es gab quasi eine Generation lang keinen Nachwuchs, die Folgen machen sich noch heute bemerkbar. Weil in den Erhalt der Infrastruktur kaum investiert worden war, lag der geschätzte Investitionsstau bei umgerechnet hundert Milliarden Euro.
1994 kam die Bahnreform. Die beiden überschuldeten Staatsunternehmen wurden zusammengelegt und privatrechtlich neu organisiert, wobei der Bund einziger Anteilseigner blieb. Die Deutsche Bahn AG entstand. 1999 wurde sie in eine Holding umgewandelt mit Tochteraktiengesellschaften, die jeweils für bestimmte Aufgaben verantwortlich waren: Fernverkehr, Nahverkehr, Güterverkehr, Netz, Personenbahnhöfe, alle mit eigenen Tochtergesellschaften, notdürftig koordiniert unter dem Dach des Hauptkonzerns. Zugleich verordnete sich der Konzern einen strengen Sparkurs, um profitabler zu werden und die Bilanzen aufzuhübschen. Vor Augen stand der geplante, dann verschobene, 2008 schliesslich aufgegebene Börsengang.
Die Folgen der «Verschlankung»: Das Personal wurde um mehr als ein Drittel reduziert, unrentable Fernverkehrsstrecken wurden stillgelegt. Vor allem traf das kleinere und mittelgrosse Orte. In dreissig Jahren verlor die Bahn – trotz Neubau – fast 8000 Schienenkilometer, gut 19 Prozent des Bestands von 1994. Weichen wurden im grossen Stil entfernt, Ausweichgleise abgebaut. Der Kurs führte nicht nur dazu, dass heute die meisten Bahnhöfe ohne Personal auskommen müssen, er ging auch zulasten der Instandhaltung, was irgendwann zu Problemen bei der Pünktlichkeit führen musste. Mangels Weichen und Stellwerkpersonal müssen Züge bei Gleisreparaturen überdies deutlich längere Umwege fahren.
Die «Vision» der Bahnreform von 1993 hatte darin bestanden, ein «Milliardengrab» für Steuergelder in einen gewinnbringenden globalen Logistikkonzern umzubauen, die «Beamtenbahn» zum börsennotierten Unternehmen. Dafür wurde die Deutsche Bahn AG vom Bund entschuldet. Daneben sollten auch das Angebot verbessert und Passagier:innen zurückgewonnen werden. Das wollte man im Fernverkehr vor allem durch den Ausbau viel genutzter Strecken zwischen Grossstädten erreichen. Schnellere Verbindungen und eine engere Taktung würden das Bahnfahren attraktiver machen, so das Kalkül. Das klappte auch einigermassen – auf diesen Strecken. Doch für viele Menschen abseits der Hauptstrecken haben sich die Reisezeiten sogar verlängert.
Immerhin: Mit der Strategie schrieb die Bahn im operativen Geschäft ab den frühen nuller Jahren schwarze Zahlen – ein Trend, der bis zur Coronakrise anhielt, sich seither aber umgekehrt hat. Inzwischen schockt der Konzern mit Riesenverlusten, was vor allem an hohen Sanierungskosten liegt; der angehäufte Schuldenberg beträgt rund dreissig Milliarden Euro – Investitionsbedarf nicht mitgerechnet. Immer wieder passte die Bahn auch ihr Tarifsystem an, wobei fast jedes Jahr die Preise stiegen. 2025 – angesichts des Pünktlichkeitsschlamassels – verzichtete die Bahn auf eine Erhöhung im Fernverkehr, doch schon 2026 könnte es wieder teurer werden, unter anderem, weil die Infrastruktursparte des Konzerns die Trasseepreise wegen der Sanierung wohl deutlich erhöhen muss.
Sowieso hängt an der Sanierung der Trassees viel: Mehr und schnellere Züge auf weniger und überalterten Schienen ohne ausreichende Personaldecke, das konnte nicht ewig gut gehen, über die Jahre hat sich ein gewaltiger Investitionsstau gebildet. Die Bahn reagierte schliesslich und rief eine «Generalsanierung» aus, Baubeginn war 2024. Auf gut vierzig Hochgeschwindigkeitsstrecken werden nun schrittweise mehrere Abschnitte gleichzeitig saniert und so über 4000 Kilometer generalüberholt. Allerdings birgt die Grossoffensive eigene Probleme. Die Fachkräfte, die es nun braucht, zum Beispiel im Gleisbau, sind rar und das Material – unter anderem aufgrund der Nachfrage – teuer.
Immer wieder muss die Bahn die Pläne korrigieren: Erst sollten die Abschnitte bis 2030, dann 2035, nun 2036 fertig werden, und wer weiss, wie es nächstes Jahr aussieht. Die 81 Milliarden Euro, die aus dem vom Bundestag beschlossenen Sondervermögen bis 2029 in die Bahnsanierung fliessen sollen, werden wohl nur reichen, um bestehende Strecken und Brücken wieder in Schuss zu bringen. Aus- und Neubau oder auch Modernisierung, etwa die geplante Digitalisierung der Schiene, sind auch mit diesem Megapaket nicht zu finanzieren. Das Bündnis Bahn für Alle, das die Konzernaktivitäten seit vielen Jahren kritisch begleitet, warnt deshalb, dass die Massnahmen in einem Jahrzehnt schon wieder veraltet sein werden und die nächste Reparaturrunde droht.
Vorzeigebeispiel Schweiz
Dabei wäre ein funktionierendes Bahnsystem wichtiger denn je. Für den Klimaschutz braucht es gute Alternativen zum Auto. Die Bereitschaft ist offenbar da: Der Anteil der zurückgelegten Zugkilometer pro Einwohner:in hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland erhöht, aber das Wachstum liegt unter dem europäischen Durchschnitt. Der Anteil der Bahn am Personenverkehr beträgt heute etwa 10 Prozent (motorisierter Individualverkehr: 83 Prozent), am Güterverkehr unter 20 Prozent. Die Bevölkerung der Schweiz legt pro Person doppelt so viele Kilometer mit dem Zug zurück wie diejenige Deutschlands.
Bahnchefin Evelyn Palla hat nun angekündigt, Entscheidungskompetenzen zu dezentralisieren und den überbordenden Managementbereich zu verkleinern. Gegen die strukturellen Probleme wird sie kaum ankommen. Diverse Regierungen haben mit der Priorisierung des Autos, einer ideologischen Festlegung auf Wettbewerb und der Schnapsidee des Börsengangs Rahmenbedingungen geschaffen, die einer sinnvollen politischen Steuerung des Schienenverkehrs im Weg stehen.
Dabei hätte es anders laufen können. Auch in der Schweiz gab es eine Bahnreform, auch hier ist die Bahn zur Aktiengesellschaft umgebaut worden, in der Schweiz als Nicht-EU-Mitglied herrschte allerdings ein geringerer Liberalisierungs- und Wettbewerbsdruck. So gab es nie den Plan, die SBB an die Börse zu bringen. Stattdessen wurde eine mehrjährige, nicht an Legislaturperioden geknüpfte Finanzierung beschlossen. Und es gibt eine am Gemeinwohl orientierte staatliche Steuerung, insbesondere bei der Bahninfrastruktur.
Hierfür nimmt die Schweiz Geld in die Hand, deutlich mehr als die meisten anderen Länder, pro Kopf viermal so viel wie Deutschland. So ist in der Schweiz ein solides, pünktliches und wenig störungsanfälliges Bahnnetz entstanden, bei dem auch Umsteigezeiten aufeinander abgestimmt sind. Eine aufeinander abgestimmte Taktung möchte auch die Deutsche Bahn AG aufbauen, «Deutschlandtakt» heisst das Ziel. Erreicht werden soll es bis 2070.