Proteste auf dem Bau: Allzeit streikbereit
Diesen Herbst werden die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen neu verhandelt: Warum das beste Argument aufseiten der Arbeiter:innen seit Jahrzehnten ihr Organisationsgrad ist.
Die Berner Altstadt ist ganz hübsch. Aber sie instand zu halten, ist anspruchsvoll, unter anderem, weil die Fassaden aus Naturstein bestehen, wie Daniel Reber erklärt. Es braucht Fachpersonen, um sie zu restaurieren oder frisch zu halten, Leute wie Reber, den Steinhauer. Jeden Morgen verlässt er um 6 Uhr das Haus, fährt zur Baustelle – zu Altstadthäusern, Kirchen oder Bauernhöfen –, verbringt den Tag auf dem Gerüst, und vor 18 Uhr ist er selten wieder zu Hause.
Daniel Reber ist Präsident des Steinhauerfachvereins Bern. Er liebe seinen Beruf, sagt er. Trotzdem bildet er sich derzeit weiter: «Damit ich nicht bis sechzig auf einem Gerüst stehen muss.» Kaputter Rücken, lottrige Kniebänder, verrenkte Schultern: «Die Bauarbeiter über fünfzig, die ich kenne, haben alle gravierende gesundheitliche Probleme.»
An diesem Freitag ist Reber deshalb nicht zur Arbeit gefahren. Stattdessen steht er auf dem Waisenhausplatz inmitten der erwähnten Berner Altstadt, um für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren, gemeinsam mit rund tausend Arbeitskolleg:innen. Fast alle Baustellen in der Stadt stehen still.
Das Déjà-vu
Anlass für den Protest sind die Verhandlungen über einen neuen Landesmantelvertrag (LMV), der die Arbeitsbedingungen der rund 80 000 Bauarbeiter:innen der Schweiz verbindlich regelt. Ende Jahr läuft er aus. In den ursprünglich fünf veranschlagten Verhandlungsgesprächen haben die Parteien keine Einigung erzielen können. Jetzt erhöhen die Arbeiter:innen, angeführt von der Gewerkschaft Unia, den Druck. Protestaktionen wie in Bern hatten zuvor schon im Tessin stattgefunden, auf Bern folgte die Westschweiz, Zürich steht noch aus.
Die Unia weiss, wie man so einen Protesttag organisiert. In einem grossen Festzelt halten Arbeiter und Gewerkschafter schwungvolle Reden, daneben steht eine aufgeblasene rote Faust, man kann hier Hau-den-Lukas spielen, Helfer:innen bieten Dosenbier an. Mit einer kleineren Präsenz segelt im Windschatten der grossen Unia, wie so oft, die zweite beteiligte Gewerkschaft Syna mit. Die Presse ist vor Ort, Unia-Verhandlungsleiter Nico Lutz schwört sie auf den Konflikt ein: «Wir sind von einer Einigung noch meilenweit entfernt!»
So gut die Inszenierung funktioniert – man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, das alles schon einmal erlebt zu haben. Die Bauarbeiter:innendemonstrationen haben rituellen Charakter. Alle paar Jahre läuft der LMV aus, alle paar Jahre muss er neu verhandelt werden. Zuletzt gab es 2022 einen «heissen Herbst», der letztlich eine Einigung zur Folge hatte, ähnlich wie zuvor schon Anfang Dezember 2018.
«Das ist das System, das wir haben», sagt Daniel Reber. «Beide Seiten wollen nach einer gewissen Zeit Neuerungen aushandeln, Forderungen durchsetzen und ihre Argumente einbringen.» Das stärkste Argument: der hohe Organisationsgrad der Bauarbeiter:innen. Im Schweizer Baugewerbe herrscht eine Streikbereitschaft, von der organisierte Arbeiter:innen und Gewerkschaften in anderen Branchen nur träumen können. «Geschenke hat uns nie jemand gemacht», sagt Reber, «unsere Mindestlöhne und die Pensionierung mit sechzig haben wir und unsere Vorgänger:innen, auf deren Schultern wir stehen, gemeinsam erkämpft.»
In Baracken schlafen
Es sind zum Beispiel die Schultern von Hans Marchetto, heute siebzigjährig. Der pensionierte Maler ist in den siebziger Jahren in die Gewerkschaft eingetreten und erzählt von der «militanten Geschichte» der Bauarbeiter:innen. «Bestimmt die Hälfte aller Streiks, die es in der Schweiz gegeben hat, betrafen das Baugewerbe», sagt Marchetto. Gründe dafür, dass die Bauarbeiter:innen so gut organisiert seien, gebe es mehrere. Entscheidend sei stets die Zusammensetzung in den Baubrigaden gewesen. Seit den sechziger Jahren waren diese von Arbeiter:innen aus Italien und Spanien geprägt. «Die Bewegungen in diesen Ländern waren zu dieser Zeit natürlich was anderes als bei uns in der Schweiz», so Marchetto.
Ab Ende der sechziger Jahre habe es einen migrationsbedingten Mobilisierungsschub gegeben, sagt auch der Gewerkschaftshistoriker Bernard Degen. Die Gewerkschaften, bis dahin immer wieder durch Fremdenfeindlichkeit aufgefallen, hätten zuerst im Baugewerbe das Potenzial der migrantischen Arbeiter:innenschaft erkannt.
Doch allein die Migration erklärt den Sonderfall Bau nicht. Schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts sei die Branche streikanfällig gewesen, sagt Degen. Woran das gelegen habe, damit beschäftigten sich lediglich kaum belastbare empirische Untersuchungen, er könne daher nur Thesen formulieren. «Die Bauarbeiter waren Saisonniers, das war aber noch kein legaler Status, sondern eine wetterbedingte Realität», sagt der Historiker. Jeden Frühling seien auf vielen Baustellen die Arbeitsverträge für die Saison ad hoc neu verhandelt worden. Dabei hätten wohl viele der Streiks stattgefunden.
1938 einigten sich Baumeister und Arbeiter dann auf den ersten Landesmantelvertrag. Aber erst einige Jahre später, in den vierziger Jahren, habe die Anzahl Gewerkschaftsmitglieder unter den Bauarbeitern erheblich zugenommen. Degen spricht von einem ersten starken Aufschwung: «Die zeitliche Verzögerung zum LMV-Abschluss lässt sich vielleicht mit dem Krisenzustand während des Weltkriegs erklären.»
Marchetto betont den sozialen Zusammenhalt, den die saisonale Arbeit auf Baustellen zwangsläufig mit sich bringe: «Man lebt in den Barackensiedlungen einer Baustelle in einem Dorf, wo man niemanden ausserhalb der Baustelle kennt, und verbringt den Alltag mit den anderen Arbeitern», sagt er. «Mit den Büezern war es immer lustig.»
«Wenn man den ganzen Tag zusammen arbeitet, gemeinsam in der Baracke zu Mittag isst, sich austauscht, dann kennt man die Probleme voneinander, weiss, womit die anderen zu kämpfen haben», sagt Daniel Reber heute. Die Umstände der Arbeiter:innen sind verschieden, manche sind hochqualifiziert, andere nur temporär angestellt, diverse Berufsgruppen kommen auf einer Baustelle zusammen. «Aber wir sind alle im gleichen Boot, die körperliche Belastung ist für alle die gleiche.»
Die Schuld der Baumeister
Der LMV ist hinsichtlich dieser Diversität einzigartig. An der Demo in Bern kämpft Reber Seite an Seite mit Alessio Rossi, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will und keine Berufslehre abgeschlossen hat, lediglich einen mehrtägigen Kurs zum Kranführer. Spannungen gebe es auf den Baustellen zwar durchaus immer wieder, sagt Rossi, oft komme es vor, dass die Schweizer Arbeiter:innen besser bezahlt würden als die anderen. «Aber das ist die Schuld der Baumeister, nicht der Kollegen», so Rossi. Und: «Wir müssen zusammen verhindern, dass die Baumeister auch nur eine einzige Verschlechterung im LMV durchsetzen können.»
Die Streitpunkte in den Verhandlungen betreffen heuer etwa die Reisezeit zur Baustelle, die den Arbeiter:innen derzeit nicht vollständig vergütet wird. Die Unternehmen fordern demgegenüber etwa die Abschaffung des Zuschlags von 25 Prozent auf Samstagsarbeit, sofern diese an einzelnen Tagen als Kompensation für hitzebedingten Arbeitsausfall unter der Woche erfolgt.
Matthias Engel vom Baumeisterverband (SBV) gibt sich gegenüber der WOZ zuversichtlich. Der LMV – «der beste GAV der Schweiz» – liege auch den Baumeistern am Herzen. Bei den Delegierten des SBV wolle man jetzt ein Mandat für weitere Verhandlungstermine einholen. Dann könnten die Gespräche fast nahtlos weitergehen. «Dass sich die Arbeiter:innen mit ihrem Beruf identifizieren und ihre Anliegen auf die Strasse tragen, ist ein gutes Zeichen», sagt Engel. «Aus Sicht der Unternehmen wäre es allerdings besser, man würde das am Wochenende tun.»