Sozialdemokratie: Papa Greulichs erstaunlich aktuelles Erbe

Nr. 45 –

Der vor hundert Jahren gestorbene Herman Greulich stellte sein Leben in den Dienst der Arbeiter:innenbewegung. Sein Wirkungsfeld beschränkte sich dabei nicht nur auf die Schweiz.

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Am 8. November jährt sich der Todestag von Herman Greulich zum 100. Mal. 1842 geboren, legte Greulich einen weiten Lebensweg zurück: Der Zögling der Breslauer Armenschule wanderte 1865 nach Zürich ein, wurde dort Aktivist in der demokratischen Bewegung und engagierte sich für das Fabrikgesetz von 1877. Ab 1887 war er eidgenössischer Arbeitersekretär, ab 1902 Nationalrat. Er wurde so zu einem Urgestein der Sozialdemokratie, bei seinem Tod gingen Kondolenzschreiben vom Bundesrat, von den Wirtschaftsverbänden, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und Arbeiter:innenorganisationen aus zahlreichen europäischen Ländern ein. Ein Trauerzug von 10 000 Menschen begleitete den Leichenwagen zum Friedhof Sihlfeld.

«Papa Greulich», wie er im letzten Viertel seines Lebens genannt wurde, war auf lokaler, kantonaler, nationaler und internationaler Ebene aktiv, engagierte sich für die Sozialpolitik, das Frauenstimmrecht, die direkte Demokratie und den Frieden, gründete Gewerkschaften und Parteiorganisationen, war ein unermüdlicher Redner und Publizist sowie Pionier der schweizerischen Sozialstatistik, er organisierte internationale Kongresse und Hilfsaktionen.

Ausdauernder «Organizer»

Obwohl Greulich nach der Jahrhundertwende wegen seines reformistischen Kurses in Konflikte mit der Parteilinken geriet, sein grauer Bart den Spott der Ur-Juso auf sich zog und sein Fortschrittsglaube im Rückblick zu optimistisch war, erscheinen viele Facetten seines Wirkens erstaunlich aktuell. Etwa sein ausdauerndes «Organizing»: Als Greulich 1865 in die Schweiz kam, gab es – abgesehen vom Typographenbund, der zunächst auch Arbeitgeber umfasste – noch keine Gewerkschaften. Bei seinem Tod zählte der Schweizerische Gewerkschaftsbund 150 000 Mitglieder, hinzu kamen noch etwa 80 000 bei anderen Gewerkschaften und Angestelltenverbänden.

Die bei Greulichs Ankunft in der Schweiz noch inexistente SP hatte bei seinem Tod 31 000 Mitglieder sowie eine umfangreiche Parteipresse und gehörte zahlreichen Stadt- und Kantonsregierungen an. Bei den Nationalratswahlen zwei Wochen vor Greulichs Tod kam sie auf einen Wähleranteil von über 25 Prozent. Greulich selbst wurde im Kanton Zürich mit der höchsten Stimmenzahl aller Kandidaten wiedergewählt.

Bereits in den späten 1860er Jahren gründete Greulich mehrere kurzlebige Gewerkschaften sowie die Zürcher Sektion der Ersten Internationale, 1870 eine erste nationale SP (die allerdings nicht lange Bestand hatte) und 1873 den ersten schweizerischen Arbeiterbund. Woche für Woche hielt er Vorträge an Arbeiterbildungskursen sowie Gewerkschafts-, Partei- und Belegschaftsversammlungen. Um die Jahrhundertwende setzte sich Greulich für die Einheit der Gewerkschaftsbewegung ein, er unterhielt nach der Entstehung separater christlicher Verbände freundschaftliche Beziehungen zu führenden Christlichsozialen. 1905 bis 1915 war er Gründungspräsident des VPOD.

Hermann Greulich
Hermann Greulich Foto: Schweizerisches Sozialarchiv

Greulichs Wirkungsfeld beschränkte sich aber nicht auf die Schweiz. Als die Wirtschaft im späten 19. Jahrhundert ein Globalisierungsschub erfasste und die Welt in die Ära des Hochimperialismus eintrat, gab es zahlreiche internationale Konferenzen, es entstanden diverse internationale Organisationen. Im halben Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg nahm Greulich an vielen Kongressen der Ersten und Zweiten Internationale teil, er knüpfte dadurch ein grosses Netzwerk in der europäischen Sozialdemokratie. Die Konferenz von 1893 in Zürich und den ausserordentlichen Friedenskongress von 1912 in Basel – beide im Zeichen der Gefahr eines europaweiten Krieges – organisierte er mit. 1897 veranstaltete Greulich eine internationale Arbeiter:innenschutzkonferenz in Zürich mit über 500 Teilnehmenden aus Arbeiter:innenverbänden, der katholischen Sozialreform und den reformbürgerlichen Wirtschaftswissenschaften. Die Tagung gab den Anstoss zur Gründung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, deren «Internationales Arbeitsamt» dann 1919 auf die ILO überging.

Empfang im Weissen Haus

Ab der Jahrhundertwende wohnte Greulich vielen Kongressen zur Sozialpolitik bei, zuletzt wenige Wochen vor seinem Tod einem Treffen in Bern, wo sich Organisationen zur Internationalen Vereinigung für sozialen Fortschritt zusammenschlossen. 1904 reiste er zum Kongress der Interparlamentarischen Union in St. Louis, war auf einem Empfang im Weissen Haus und hielt in der New Yorker Carnegie Hall und anderen Städten Wahlkampfreden für den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Eugene Debs. Im folgenden Jahr betätigte er sich während revolutionärer Unruhen im Zarenreich in der Schweizer Solidaritätsbewegung für die russische Opposition. 1913 organisierte er ein überparteiliches Versöhnungstreffen deutscher und französischer Parlamentarier an der Uni Bern mit.

Neben dem Internationalismus war der demokratische Republikanismus ein Eckpfeiler von Greulichs Engagement. Er war ein entschiedener Gegner der monarchischen Grossmächte, später auch des Bolschewismus. Als überzeugter Anhänger der direkten Demokratie engagierte er sich nach der Jahrhundertwende für das Proporzwahlrecht. 1877 in Hirslanden nur mit Stichentscheid des Gemeindepräsidenten eingebürgert, machte sich Greulich auch für ein einheitliches Schweizer Bürgerrecht stark, dessen Erwerb nicht mehr im Ermessen der Gemeinden liegen sollte und das ausserdem alle im Land Geborenen erlangen können sollten. Ebenso reichte Greulich in allen Parlamenten, denen er angehörte, Vorstösse für die Einführung des Frauenstimmrechts ein.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Obwohl Greulich privat ein bürgerliches Familienmodell praktizierte und die Erziehung der sieben Kinder weitgehend seine Frau Johanna übernahm, reichte sein Engagement für die Frauenemanzipation über die Forderung nach politischer Gleichstellung hinaus. Bereits am Kongress der Ersten Internationale von 1869 ergriff er als einer von nur zwei Delegierten gegen einen Antrag auf Verbot der weiblichen Lohnarbeit das Wort und formulierte den Grundsatz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Dieses erst 56 Jahre nach Greulichs Tod in der Bundesverfassung verankerte Prinzip vertrat er immer wieder.

Ebenso setzte Greulich sich früh für die gewerkschaftliche Organisation von Frauen ein. Schon am Kongress des Arbeiterbunds von 1876 wies er gegen die Forderung nach dem Ausschluss von Frauen aus den Ar­­beiter:innenorganisationen auf die Notwendigkeit hin, die «schlechtestgestellten Angehörigen des Arbeiterstandes» – wie etwa Frauen – in der Zigarrenproduktion in die Bewegung zu integrieren: «Die Frauenemanzipation ist keine politische Schrulle, sie ist notwendig für die Emanzipation der Arbeiter überhaupt.»

«Geh deine Bahn und lass die Leute schwätzen». Zum 100. Todestag von Herman Greulich: Zürich Schweizerisches Sozialarchiv, Freitag, 7. November 2025, 18 Uhr.