Von oben herab: Komm, süsser Tod
Stefan Gärtner über Leonhard und andere «Tabus»
Das Printzeitalter neigt sich ja seinem Ende zu, und wahrscheinlich verstehen die Jüngeren schon gar nicht mehr, was mit dem Merksatz «Papier ist geduldig» mal gemeint war. «Bloss nicht abheben: Der Schauspieler Axel Prahl nimmt sich selbst nicht so wichtig», ködert mich die Titelseite des Morgenblatts, erreicht aber nur, dass ich sie ungelesen ins Eck lege, weil der Schauspieler Axel Prahl auf dem Foto, das ihn als einen zeigen soll, der sich nicht so wichtig nimmt, einen blauen Hut trägt, was mir nicht passen will zu einem, dem Bescheidenheit alles ist. Ich erinnere mich sogar an einen Porträtfilm, den ich nicht bis zum Ende durchstand, weil Axel Prahl, gegen dessen Rolle als «Tatort»-Buddy von Professor Boerne gar nichts gesagt sei, sich darin ziemlich wichtig nahm, wie es kleine Männer, dem Klischee zufolge, eben gern tun. Man kann aber trotzdem «Der Schauspieler Axel Prahl nimmt sich selbst nicht so wichtig» über einen Zeitungstext schreiben, weil wir erstens Meinungsfreiheit haben und zweitens, jetzt kommts: Papier geduldig ist.
Auch das Wort «Tabu» ist schnell gesagt und schnell gedruckt, und häufiger als das echte Tabu ist eins, das behauptet wird, weil tabulose Wahrheit die gerechte Sache selbst ist. Israelisches Unrecht etwa, ob nun in der Vergangenheit oder der Gegenwart, ist so ziemlich das Gegenteil eines Tabus, weil israelische Untaten Untaten schlechthin sind und kaum Gefahr laufen, von einer sehr geneigten Öffentlichkeit ignoriert zu werden. Der Komiker Hape Kerkeling hat vor Jahren mitgeteilt, dass es zwei grosse Tabus in der Gesellschaft gebe, den Sex und den Tod, und das ist in unserer pornografisierten Welt natürlich zur Hälfte der reine Unsinn; erscheinen darf er trotzdem, gerade wenn er straf- und zivilrechtlich unbedenklich und keine boshafte, ehrverletzende oder geschäftsschädigende Falschbehauptung ist. In den Vereinigten Staaten wird bekanntlich von oberster Stelle versucht, auch boshafte Lügen salonfähig zu machen, und die Geduld von Donald Trumps «Truth Social»-Account ist wahrhaft bewundernswert.
In Zürich haben drei kregle Politrentner jetzt einen «Leonhard-Kreis» vorgestellt, der sich für mehr Geduld auch bei uns einsetzt. Der heilige Leonhard ist der Schutzpatron der Gefangenen, und gefangen ist man heute in viel zu engen Meinungskorridoren eben auch: «Für das ‹Recht auf freie Rede› wolle man sich einsetzen, verkündete der Vereinspräsident und ehemalige SVP-Bundesrat Ueli Maurer in Zürich vor den Medien. Er und seine anwesenden Mitstreiter Thilo Sarrazin und Hans-Georg Maassen sehen die Meinungsfreiheit in den deutschsprachigen Ländern bedroht oder bereits beschädigt. Konkret beklagten sie die ‹Tabuisierung› von kritischen Haltungen zu den Themen Migration, Gender, Klimaschutz und Coronamassnahmen» («Tages-Anzeiger»). Quod erat und so weiter: Was angeblich tabu ist, ist es gar nicht, und wem bei Migration, Gender, Klimaschutz und Corona unbehaglich ist, der konnte und kann, in allerschönster Öffentlichkeit, Dieter Nuhr gucken.
Erkenntnisfördernd ist solcher Alarmismus darin, dass die «kritischen Haltungen» mehr aus Haltung denn aus Kritik bestehen, wobei Selbstgerechtigkeit fehl am Platze ist: Rechte Kulturkampfstrategien anzuzeigen, bedeutet nämlich nicht, dass linker Hand gleich der Paradiesgarten der Diskursfreiheit läge. Das Recht auf freie Rede ist derweil noch unbedroht genug, dass in Ostdeutschland eine Generation ans AfD-Tiktok verloren geht, das dafür wirbt, dass man wieder sagen dürfen müsse, was zu sagen sei. Man kriegt es dann auch gleich souffliert.
«Es geht nicht um freie Rede, es geht um Macht», weiss denn auch der «Tagi», und die winkt heute dem, der sich der «schweigenden Mehrheit» (Maurer) andient; die sich an dem Kakao, durch den man sie zieht, betrinken soll. Mir wär’s zu süss.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.